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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Mitglieder kann dieser Naturzustand politischer Nacktheit und Naivetät niemals
ganz verschwinden, -- am wenigsten in unsern deutschen Verhältnissen, die es
so mit sich bringen, daß man heute Rechtsanwalt, Schullehrer oder Arzt ist
und morgen einer der Gesetzgeber der Nation. Darum gerade bedürfen vor-
wärtsstrebende Parteien des Führers, der ihren nothwendig befangenen
und begrenzten Blick auf den großen Zusammenhang der Dinge richtet.
Die technischen Arbeiten der Commissionen zu erledigen mag jedesmal den
sachverständigen und geübten Mitgliedern überlassen bleiben. Der politische
Führer aber muß jeder solchen Thätigkeit den Werth anweisen, welchen sie für
den parlamentarischen Feldzug im Großen und Ganzen besitzt; er muß verknüpfen,
was sich sachlich sondert, sobald die Verknüpfung, die gemeinschaftliche politische
Behandlung zweier oder mehrer Dinge einen praktischen Erfolg verspricht.
Eine Partei, die nicht im höhern Sinn des Worts Führer hat, kommt aller¬
dings nicht so leicht in die Lage, einen Kompromiß einzugehen, weil es ihr an
dazu geschickten und dasür Credit besitzenden Händen fehlt, -- und es ist wohl
keine Frage, daß diese Consequenz der Führer!osigkeit der Fortschrittspartei von
ihren Ultras mit Behagen hingenommen wird, weil ein Ultra eben jeden
Kompromiß verabscheut. Indessen eine führerlose Partei ist nicht blos zu Ver¬
gleichen mit dem Gegner, sondern überhaupt zu jeder rechtzeitigen Bewegung
unfähig. Sie vermag ebensowenig siegreichen Krieg zu führen wie zweck¬
mäßigen Frieden zu schließen, es sei denn für die kurze Zeit, wo Stillstehen und
Schießen den Feind hinlänglich in Athem erhält. Die Fortschrittspartei hat
eben jetzt Anlaß, die Richtigkeit dieser Betrachtung praktisch zu erproben: ihre
mangelhafte Organisation hat sie bisher verhindert, ihre Stellung zur Militär¬
frage den Veränderungen in der thatsächlichen Lage und in der öffentlichen
Stimmung entsprechend aufs neue M fixiren, und plötzlich angeordnete Neu¬
wahlen könnten sie daher in arge Verlegenheit setzen. Es ist hohe Zeit, dieses
Versäumniß selbst unter den Erschwerungen der Periode zwischen zwei Landtags¬
sessionen nachzuholen. Es ist Zeit, daß der kämpfende preußische Liberalismus
wieder Führer bekomme und eine ununterbrochen wirksame vielseitige Or¬
ganisation.




Grenzboten III. 186S.2

Mitglieder kann dieser Naturzustand politischer Nacktheit und Naivetät niemals
ganz verschwinden, — am wenigsten in unsern deutschen Verhältnissen, die es
so mit sich bringen, daß man heute Rechtsanwalt, Schullehrer oder Arzt ist
und morgen einer der Gesetzgeber der Nation. Darum gerade bedürfen vor-
wärtsstrebende Parteien des Führers, der ihren nothwendig befangenen
und begrenzten Blick auf den großen Zusammenhang der Dinge richtet.
Die technischen Arbeiten der Commissionen zu erledigen mag jedesmal den
sachverständigen und geübten Mitgliedern überlassen bleiben. Der politische
Führer aber muß jeder solchen Thätigkeit den Werth anweisen, welchen sie für
den parlamentarischen Feldzug im Großen und Ganzen besitzt; er muß verknüpfen,
was sich sachlich sondert, sobald die Verknüpfung, die gemeinschaftliche politische
Behandlung zweier oder mehrer Dinge einen praktischen Erfolg verspricht.
Eine Partei, die nicht im höhern Sinn des Worts Führer hat, kommt aller¬
dings nicht so leicht in die Lage, einen Kompromiß einzugehen, weil es ihr an
dazu geschickten und dasür Credit besitzenden Händen fehlt, — und es ist wohl
keine Frage, daß diese Consequenz der Führer!osigkeit der Fortschrittspartei von
ihren Ultras mit Behagen hingenommen wird, weil ein Ultra eben jeden
Kompromiß verabscheut. Indessen eine führerlose Partei ist nicht blos zu Ver¬
gleichen mit dem Gegner, sondern überhaupt zu jeder rechtzeitigen Bewegung
unfähig. Sie vermag ebensowenig siegreichen Krieg zu führen wie zweck¬
mäßigen Frieden zu schließen, es sei denn für die kurze Zeit, wo Stillstehen und
Schießen den Feind hinlänglich in Athem erhält. Die Fortschrittspartei hat
eben jetzt Anlaß, die Richtigkeit dieser Betrachtung praktisch zu erproben: ihre
mangelhafte Organisation hat sie bisher verhindert, ihre Stellung zur Militär¬
frage den Veränderungen in der thatsächlichen Lage und in der öffentlichen
Stimmung entsprechend aufs neue M fixiren, und plötzlich angeordnete Neu¬
wahlen könnten sie daher in arge Verlegenheit setzen. Es ist hohe Zeit, dieses
Versäumniß selbst unter den Erschwerungen der Periode zwischen zwei Landtags¬
sessionen nachzuholen. Es ist Zeit, daß der kämpfende preußische Liberalismus
wieder Führer bekomme und eine ununterbrochen wirksame vielseitige Or¬
ganisation.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/15>, abgerufen am 15.01.2025.