Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hat er zuerst, wenn damals auch erfolglos und also vielleicht verfrüht, den
allein heilsamen Weg des Compromisses mit sicherem Fuße beschriften. Das
war ohne allen Zweifel eine Führerthat. Er hat sie diesmal nicht wiederholt,
Vorsichtig abgehalten durch den Schatten des ersten Mißerfolgs; aber er wird
sie das nächste Mal wiederholen, wenn wir uns irgend auf ihn verstehen, und
dann mit Erfolg. So stumm-zurückhaltend v. Forkenbeck, so leichtflüssig hat
sich bisher die andere parlamentarische und politische Hoffnung der Fortschritts¬
partei gezeigt: Professor Virchow. Er geht in der Vielseitigkeit und Allbe¬
schlagenheit außerordentlich weit, -- so weit, daß ohne ein ernstes dringendes
Motiv des Jmmervoranseins seine Urtheilskraft und Selbstbeherrschung in
Frage gezogen werden müßte. Allein er hat sich dafür doch auch bereits zum
schlagfertigsten Redner des Abgeordnetenhauses gebildet. Wer sich so wie er
in allen bedeutenderen Materien ohne Ausnahme einstudirt, dem kann man doch
nicht wohl Redewuth, nicht gerade unbändige Eitelkeit und am wenigsten viel¬
leicht Dilettantismus mehr vorwerfen, sondern muß annehmen, daß er die
Politik als sein eigentliches Fach ansieht. Natürlich kann auch ein Arbeits¬
genie wie Virchow nicht gleichzeitig in der Medicin und in der Politik allen
Zeitgenossen voranschreiten und wird daher über kurz oder lang eine Wahl treffen
müssen, die, wie wir vermuthen, auf die Politik fallen wird. Für die Medicin
hat er genug gethan, um in ihren Annalen fortzuleben; er wird politischen
Geschmack und Ehrgeiz genug besitzen, um zu wünschen, daß auch die politischen
Jahrbücher Deutschlands Grund erhalten ihn unter ihre bedeutenderen Namen
aufzunehmen. Wir billigen seine Haltung in der Schleswig-holsteinischen Sache
nicht, aber nicht davon ist hier die Rede, wie überhaupt nicht von der Richtung,
der er jetzt zugewendet ist, sondern von seiner Befähigung zur Führung einer
Partei, und da ist anzuerkennen, daß er in seiner Vielgewandheit. Arbeits¬
kraft, Schlagfertigkeit und Ruhe gewiß nicht unbedeutende Gaben besitzt.
Wenn sein College und Nebenbuhler Gneist größeren Scharfsinn, einnehmendere
Beredsamkeit und reicheres politisches Wissen aufzuweisen hat. so mangelt
diesem doch theils Stetigkeit und Einheit des Willens, theils eine gewisse all¬
gemeine Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstande zu sehr, als
daß er Vichow mit Ueberholung bedrohen sollte. Graf Hegnenberg ist dem
Freiherrn v. Lerchenfeld auch an Feinheit des Verstandes und Reichthum des
Geistes bei weitem überlegen, aber doch hat dieser, nicht jener, Jahrzehnte
hindurch die bayerischen Altliberalen geführt.

Nur anerkannte, wirklich leitende Führer von überlegner Energie und Einsicht
können die große Lücke ausfüllen, die in der politischen Ausrüstung des Abge¬
ordnetenhauses augenblicklich noch zu bemerken ist: die Unfähigkeit, sich über
die einzelnen Aufgaben und Sorgen des Tages zur Gcsammtanschauung der
Lage des Vaterlandes und der Partei zu erheben. Bei der Masse der einzelnen


hat er zuerst, wenn damals auch erfolglos und also vielleicht verfrüht, den
allein heilsamen Weg des Compromisses mit sicherem Fuße beschriften. Das
war ohne allen Zweifel eine Führerthat. Er hat sie diesmal nicht wiederholt,
Vorsichtig abgehalten durch den Schatten des ersten Mißerfolgs; aber er wird
sie das nächste Mal wiederholen, wenn wir uns irgend auf ihn verstehen, und
dann mit Erfolg. So stumm-zurückhaltend v. Forkenbeck, so leichtflüssig hat
sich bisher die andere parlamentarische und politische Hoffnung der Fortschritts¬
partei gezeigt: Professor Virchow. Er geht in der Vielseitigkeit und Allbe¬
schlagenheit außerordentlich weit, — so weit, daß ohne ein ernstes dringendes
Motiv des Jmmervoranseins seine Urtheilskraft und Selbstbeherrschung in
Frage gezogen werden müßte. Allein er hat sich dafür doch auch bereits zum
schlagfertigsten Redner des Abgeordnetenhauses gebildet. Wer sich so wie er
in allen bedeutenderen Materien ohne Ausnahme einstudirt, dem kann man doch
nicht wohl Redewuth, nicht gerade unbändige Eitelkeit und am wenigsten viel¬
leicht Dilettantismus mehr vorwerfen, sondern muß annehmen, daß er die
Politik als sein eigentliches Fach ansieht. Natürlich kann auch ein Arbeits¬
genie wie Virchow nicht gleichzeitig in der Medicin und in der Politik allen
Zeitgenossen voranschreiten und wird daher über kurz oder lang eine Wahl treffen
müssen, die, wie wir vermuthen, auf die Politik fallen wird. Für die Medicin
hat er genug gethan, um in ihren Annalen fortzuleben; er wird politischen
Geschmack und Ehrgeiz genug besitzen, um zu wünschen, daß auch die politischen
Jahrbücher Deutschlands Grund erhalten ihn unter ihre bedeutenderen Namen
aufzunehmen. Wir billigen seine Haltung in der Schleswig-holsteinischen Sache
nicht, aber nicht davon ist hier die Rede, wie überhaupt nicht von der Richtung,
der er jetzt zugewendet ist, sondern von seiner Befähigung zur Führung einer
Partei, und da ist anzuerkennen, daß er in seiner Vielgewandheit. Arbeits¬
kraft, Schlagfertigkeit und Ruhe gewiß nicht unbedeutende Gaben besitzt.
Wenn sein College und Nebenbuhler Gneist größeren Scharfsinn, einnehmendere
Beredsamkeit und reicheres politisches Wissen aufzuweisen hat. so mangelt
diesem doch theils Stetigkeit und Einheit des Willens, theils eine gewisse all¬
gemeine Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstande zu sehr, als
daß er Vichow mit Ueberholung bedrohen sollte. Graf Hegnenberg ist dem
Freiherrn v. Lerchenfeld auch an Feinheit des Verstandes und Reichthum des
Geistes bei weitem überlegen, aber doch hat dieser, nicht jener, Jahrzehnte
hindurch die bayerischen Altliberalen geführt.

Nur anerkannte, wirklich leitende Führer von überlegner Energie und Einsicht
können die große Lücke ausfüllen, die in der politischen Ausrüstung des Abge¬
ordnetenhauses augenblicklich noch zu bemerken ist: die Unfähigkeit, sich über
die einzelnen Aufgaben und Sorgen des Tages zur Gcsammtanschauung der
Lage des Vaterlandes und der Partei zu erheben. Bei der Masse der einzelnen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283367"/>
          <p xml:id="ID_21" prev="#ID_20"> hat er zuerst, wenn damals auch erfolglos und also vielleicht verfrüht, den<lb/>
allein heilsamen Weg des Compromisses mit sicherem Fuße beschriften. Das<lb/>
war ohne allen Zweifel eine Führerthat. Er hat sie diesmal nicht wiederholt,<lb/>
Vorsichtig abgehalten durch den Schatten des ersten Mißerfolgs; aber er wird<lb/>
sie das nächste Mal wiederholen, wenn wir uns irgend auf ihn verstehen, und<lb/>
dann mit Erfolg. So stumm-zurückhaltend v. Forkenbeck, so leichtflüssig hat<lb/>
sich bisher die andere parlamentarische und politische Hoffnung der Fortschritts¬<lb/>
partei gezeigt: Professor Virchow. Er geht in der Vielseitigkeit und Allbe¬<lb/>
schlagenheit außerordentlich weit, &#x2014; so weit, daß ohne ein ernstes dringendes<lb/>
Motiv des Jmmervoranseins seine Urtheilskraft und Selbstbeherrschung in<lb/>
Frage gezogen werden müßte. Allein er hat sich dafür doch auch bereits zum<lb/>
schlagfertigsten Redner des Abgeordnetenhauses gebildet. Wer sich so wie er<lb/>
in allen bedeutenderen Materien ohne Ausnahme einstudirt, dem kann man doch<lb/>
nicht wohl Redewuth, nicht gerade unbändige Eitelkeit und am wenigsten viel¬<lb/>
leicht Dilettantismus mehr vorwerfen, sondern muß annehmen, daß er die<lb/>
Politik als sein eigentliches Fach ansieht. Natürlich kann auch ein Arbeits¬<lb/>
genie wie Virchow nicht gleichzeitig in der Medicin und in der Politik allen<lb/>
Zeitgenossen voranschreiten und wird daher über kurz oder lang eine Wahl treffen<lb/>
müssen, die, wie wir vermuthen, auf die Politik fallen wird. Für die Medicin<lb/>
hat er genug gethan, um in ihren Annalen fortzuleben; er wird politischen<lb/>
Geschmack und Ehrgeiz genug besitzen, um zu wünschen, daß auch die politischen<lb/>
Jahrbücher Deutschlands Grund erhalten ihn unter ihre bedeutenderen Namen<lb/>
aufzunehmen. Wir billigen seine Haltung in der Schleswig-holsteinischen Sache<lb/>
nicht, aber nicht davon ist hier die Rede, wie überhaupt nicht von der Richtung,<lb/>
der er jetzt zugewendet ist, sondern von seiner Befähigung zur Führung einer<lb/>
Partei, und da ist anzuerkennen, daß er in seiner Vielgewandheit. Arbeits¬<lb/>
kraft, Schlagfertigkeit und Ruhe gewiß nicht unbedeutende Gaben besitzt.<lb/>
Wenn sein College und Nebenbuhler Gneist größeren Scharfsinn, einnehmendere<lb/>
Beredsamkeit und reicheres politisches Wissen aufzuweisen hat. so mangelt<lb/>
diesem doch theils Stetigkeit und Einheit des Willens, theils eine gewisse all¬<lb/>
gemeine Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstande zu sehr, als<lb/>
daß er Vichow mit Ueberholung bedrohen sollte. Graf Hegnenberg ist dem<lb/>
Freiherrn v. Lerchenfeld auch an Feinheit des Verstandes und Reichthum des<lb/>
Geistes bei weitem überlegen, aber doch hat dieser, nicht jener, Jahrzehnte<lb/>
hindurch die bayerischen Altliberalen geführt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_22" next="#ID_23"> Nur anerkannte, wirklich leitende Führer von überlegner Energie und Einsicht<lb/>
können die große Lücke ausfüllen, die in der politischen Ausrüstung des Abge¬<lb/>
ordnetenhauses augenblicklich noch zu bemerken ist: die Unfähigkeit, sich über<lb/>
die einzelnen Aufgaben und Sorgen des Tages zur Gcsammtanschauung der<lb/>
Lage des Vaterlandes und der Partei zu erheben. Bei der Masse der einzelnen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] hat er zuerst, wenn damals auch erfolglos und also vielleicht verfrüht, den allein heilsamen Weg des Compromisses mit sicherem Fuße beschriften. Das war ohne allen Zweifel eine Führerthat. Er hat sie diesmal nicht wiederholt, Vorsichtig abgehalten durch den Schatten des ersten Mißerfolgs; aber er wird sie das nächste Mal wiederholen, wenn wir uns irgend auf ihn verstehen, und dann mit Erfolg. So stumm-zurückhaltend v. Forkenbeck, so leichtflüssig hat sich bisher die andere parlamentarische und politische Hoffnung der Fortschritts¬ partei gezeigt: Professor Virchow. Er geht in der Vielseitigkeit und Allbe¬ schlagenheit außerordentlich weit, — so weit, daß ohne ein ernstes dringendes Motiv des Jmmervoranseins seine Urtheilskraft und Selbstbeherrschung in Frage gezogen werden müßte. Allein er hat sich dafür doch auch bereits zum schlagfertigsten Redner des Abgeordnetenhauses gebildet. Wer sich so wie er in allen bedeutenderen Materien ohne Ausnahme einstudirt, dem kann man doch nicht wohl Redewuth, nicht gerade unbändige Eitelkeit und am wenigsten viel¬ leicht Dilettantismus mehr vorwerfen, sondern muß annehmen, daß er die Politik als sein eigentliches Fach ansieht. Natürlich kann auch ein Arbeits¬ genie wie Virchow nicht gleichzeitig in der Medicin und in der Politik allen Zeitgenossen voranschreiten und wird daher über kurz oder lang eine Wahl treffen müssen, die, wie wir vermuthen, auf die Politik fallen wird. Für die Medicin hat er genug gethan, um in ihren Annalen fortzuleben; er wird politischen Geschmack und Ehrgeiz genug besitzen, um zu wünschen, daß auch die politischen Jahrbücher Deutschlands Grund erhalten ihn unter ihre bedeutenderen Namen aufzunehmen. Wir billigen seine Haltung in der Schleswig-holsteinischen Sache nicht, aber nicht davon ist hier die Rede, wie überhaupt nicht von der Richtung, der er jetzt zugewendet ist, sondern von seiner Befähigung zur Führung einer Partei, und da ist anzuerkennen, daß er in seiner Vielgewandheit. Arbeits¬ kraft, Schlagfertigkeit und Ruhe gewiß nicht unbedeutende Gaben besitzt. Wenn sein College und Nebenbuhler Gneist größeren Scharfsinn, einnehmendere Beredsamkeit und reicheres politisches Wissen aufzuweisen hat. so mangelt diesem doch theils Stetigkeit und Einheit des Willens, theils eine gewisse all¬ gemeine Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstande zu sehr, als daß er Vichow mit Ueberholung bedrohen sollte. Graf Hegnenberg ist dem Freiherrn v. Lerchenfeld auch an Feinheit des Verstandes und Reichthum des Geistes bei weitem überlegen, aber doch hat dieser, nicht jener, Jahrzehnte hindurch die bayerischen Altliberalen geführt. Nur anerkannte, wirklich leitende Führer von überlegner Energie und Einsicht können die große Lücke ausfüllen, die in der politischen Ausrüstung des Abge¬ ordnetenhauses augenblicklich noch zu bemerken ist: die Unfähigkeit, sich über die einzelnen Aufgaben und Sorgen des Tages zur Gcsammtanschauung der Lage des Vaterlandes und der Partei zu erheben. Bei der Masse der einzelnen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/14>, abgerufen am 15.01.2025.