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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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und Haft vorschrieb, wo jemand zu nur sechs Monaten Gefängniß, wenn auch
nicht rechtskräftig verurtheilt ist. Ein nicht rechtskräftiges Erkenntniß macht
den Verurtheilten noch nicht schuldig. Wer aus der Praxis weiß, welche große
Zahl gerade der Strafsachen dieses unbedeutenden Strafmaßes in den höheren
Instanzen umgeändert, aufgehoben werden, und welche enorme Zahl von Straf¬
fällen verschiedenster Gattung von diesem Strafmaße betroffen werden, muß
die unerhörte Ausdehnung der Untersuchungshaft als Schablonenarbeit des
Bureaukratismus, oder geradezu als Zeichen der Unkenntnis), oder was das
Verwerflichste, als Ausfluß und Handhabe einer absichtlichen Härte des Crimina-
listen, ja des mit Macht begabten politischen Parteimannes ansehn. In jedem
dieser Fälle ist eine so abnorme Vorschrift mit Entschiedenheit, um nicht zu
sagen mit Entrüstung zu verwerfen.

Die dieser hervorragenden Stelle zur Erklärung beigefügte Note erklärt
nichts und mildert noch weniger die Härte. Sie verweist darauf, die Be¬
stimmung des Entwurfes von 1861 sei nicht aufgenommen, wonach gegen
Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe wegen Vergehen oder Uebertretungen
die Nichtigkeitsbeschwerde von Seiten des Verurtheilten nicht eher stattfinden
sollte, als bis er sich in Untersuchungshaft begeben hatte. Die Vorschrift des
neuen Entwurfs ist darin sogar härter, als letztere, daß sie bereits von der
Verurtheilung erster Instanz die Haft unbedingt anfangen läßt. Wenn aber
der Entwurf von 18S1 auch darin sich vorragend streng erweist, daß er alle
Fälle der Freiheitsstrafe in Vergehen und Uebertretungen trifft, und daß er
das höchste Rechtsmittel geradezu erst von der Haft in seiner Zulässigkeit ab¬
hängig macht, so soll doch das keine Entschuldigung der neuen Härte sein, daß
ältere Gesetze noch härter, barbarischer, ungerechter waren. Der Charakter
des Jahres 1851 zumal ist wahrlich kein neutraler für das Entstehen einer
gerade auch politisch'so wichtigen Bestimmung, ihre herbe Vorschrift läßt die
Worte des neuen Entwurfs doppelt hart erscheinen, politisch und juristisch
(menschlich), darum doppelt verwerflich. Bekehrten denn die zum Theil mit
großer Entschiedenheit 1861 ausgesprochenen Verwerfungen jenes K 465 des
damaligen Entwurfs durch die preußischen Appellationsgerichte nicht das heutige
Justizministerium, daß schon damals die heute zum Theil erneuerten Grund¬
sätze verwerflich seien? Die Note sagt weiter, "um zu verhindern, daß die Ein¬
legung der Rechtsmittel nicht dazu benutzt werde, um in der hierdurch ge¬
wonnenen Zeit die Anstalten zur Flucht mit Muße ausführen zu können, er¬
scheint es nothwendig, die Höhe der Gefängnißstrafe, mit welcher die Gefahr
der Vermuthung der Flucht eintritt, in denjenigen Fällen niedriger zu bestim-
men, in denen bereits in einer Instanz eine Verurtheilung erging." Ueber die
Zahl solcher Fluchtfälle ist unsers Wissens eine statistische Untersuchung nicht an¬
gestellt , ja sie konnte in der allein maßgebenden Genauigkeit gar nicht angestellt


Grenzbottll II. 186S. 10

und Haft vorschrieb, wo jemand zu nur sechs Monaten Gefängniß, wenn auch
nicht rechtskräftig verurtheilt ist. Ein nicht rechtskräftiges Erkenntniß macht
den Verurtheilten noch nicht schuldig. Wer aus der Praxis weiß, welche große
Zahl gerade der Strafsachen dieses unbedeutenden Strafmaßes in den höheren
Instanzen umgeändert, aufgehoben werden, und welche enorme Zahl von Straf¬
fällen verschiedenster Gattung von diesem Strafmaße betroffen werden, muß
die unerhörte Ausdehnung der Untersuchungshaft als Schablonenarbeit des
Bureaukratismus, oder geradezu als Zeichen der Unkenntnis), oder was das
Verwerflichste, als Ausfluß und Handhabe einer absichtlichen Härte des Crimina-
listen, ja des mit Macht begabten politischen Parteimannes ansehn. In jedem
dieser Fälle ist eine so abnorme Vorschrift mit Entschiedenheit, um nicht zu
sagen mit Entrüstung zu verwerfen.

Die dieser hervorragenden Stelle zur Erklärung beigefügte Note erklärt
nichts und mildert noch weniger die Härte. Sie verweist darauf, die Be¬
stimmung des Entwurfes von 1861 sei nicht aufgenommen, wonach gegen
Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe wegen Vergehen oder Uebertretungen
die Nichtigkeitsbeschwerde von Seiten des Verurtheilten nicht eher stattfinden
sollte, als bis er sich in Untersuchungshaft begeben hatte. Die Vorschrift des
neuen Entwurfs ist darin sogar härter, als letztere, daß sie bereits von der
Verurtheilung erster Instanz die Haft unbedingt anfangen läßt. Wenn aber
der Entwurf von 18S1 auch darin sich vorragend streng erweist, daß er alle
Fälle der Freiheitsstrafe in Vergehen und Uebertretungen trifft, und daß er
das höchste Rechtsmittel geradezu erst von der Haft in seiner Zulässigkeit ab¬
hängig macht, so soll doch das keine Entschuldigung der neuen Härte sein, daß
ältere Gesetze noch härter, barbarischer, ungerechter waren. Der Charakter
des Jahres 1851 zumal ist wahrlich kein neutraler für das Entstehen einer
gerade auch politisch'so wichtigen Bestimmung, ihre herbe Vorschrift läßt die
Worte des neuen Entwurfs doppelt hart erscheinen, politisch und juristisch
(menschlich), darum doppelt verwerflich. Bekehrten denn die zum Theil mit
großer Entschiedenheit 1861 ausgesprochenen Verwerfungen jenes K 465 des
damaligen Entwurfs durch die preußischen Appellationsgerichte nicht das heutige
Justizministerium, daß schon damals die heute zum Theil erneuerten Grund¬
sätze verwerflich seien? Die Note sagt weiter, „um zu verhindern, daß die Ein¬
legung der Rechtsmittel nicht dazu benutzt werde, um in der hierdurch ge¬
wonnenen Zeit die Anstalten zur Flucht mit Muße ausführen zu können, er¬
scheint es nothwendig, die Höhe der Gefängnißstrafe, mit welcher die Gefahr
der Vermuthung der Flucht eintritt, in denjenigen Fällen niedriger zu bestim-
men, in denen bereits in einer Instanz eine Verurtheilung erging." Ueber die
Zahl solcher Fluchtfälle ist unsers Wissens eine statistische Untersuchung nicht an¬
gestellt , ja sie konnte in der allein maßgebenden Genauigkeit gar nicht angestellt


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[0081] und Haft vorschrieb, wo jemand zu nur sechs Monaten Gefängniß, wenn auch nicht rechtskräftig verurtheilt ist. Ein nicht rechtskräftiges Erkenntniß macht den Verurtheilten noch nicht schuldig. Wer aus der Praxis weiß, welche große Zahl gerade der Strafsachen dieses unbedeutenden Strafmaßes in den höheren Instanzen umgeändert, aufgehoben werden, und welche enorme Zahl von Straf¬ fällen verschiedenster Gattung von diesem Strafmaße betroffen werden, muß die unerhörte Ausdehnung der Untersuchungshaft als Schablonenarbeit des Bureaukratismus, oder geradezu als Zeichen der Unkenntnis), oder was das Verwerflichste, als Ausfluß und Handhabe einer absichtlichen Härte des Crimina- listen, ja des mit Macht begabten politischen Parteimannes ansehn. In jedem dieser Fälle ist eine so abnorme Vorschrift mit Entschiedenheit, um nicht zu sagen mit Entrüstung zu verwerfen. Die dieser hervorragenden Stelle zur Erklärung beigefügte Note erklärt nichts und mildert noch weniger die Härte. Sie verweist darauf, die Be¬ stimmung des Entwurfes von 1861 sei nicht aufgenommen, wonach gegen Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe wegen Vergehen oder Uebertretungen die Nichtigkeitsbeschwerde von Seiten des Verurtheilten nicht eher stattfinden sollte, als bis er sich in Untersuchungshaft begeben hatte. Die Vorschrift des neuen Entwurfs ist darin sogar härter, als letztere, daß sie bereits von der Verurtheilung erster Instanz die Haft unbedingt anfangen läßt. Wenn aber der Entwurf von 18S1 auch darin sich vorragend streng erweist, daß er alle Fälle der Freiheitsstrafe in Vergehen und Uebertretungen trifft, und daß er das höchste Rechtsmittel geradezu erst von der Haft in seiner Zulässigkeit ab¬ hängig macht, so soll doch das keine Entschuldigung der neuen Härte sein, daß ältere Gesetze noch härter, barbarischer, ungerechter waren. Der Charakter des Jahres 1851 zumal ist wahrlich kein neutraler für das Entstehen einer gerade auch politisch'so wichtigen Bestimmung, ihre herbe Vorschrift läßt die Worte des neuen Entwurfs doppelt hart erscheinen, politisch und juristisch (menschlich), darum doppelt verwerflich. Bekehrten denn die zum Theil mit großer Entschiedenheit 1861 ausgesprochenen Verwerfungen jenes K 465 des damaligen Entwurfs durch die preußischen Appellationsgerichte nicht das heutige Justizministerium, daß schon damals die heute zum Theil erneuerten Grund¬ sätze verwerflich seien? Die Note sagt weiter, „um zu verhindern, daß die Ein¬ legung der Rechtsmittel nicht dazu benutzt werde, um in der hierdurch ge¬ wonnenen Zeit die Anstalten zur Flucht mit Muße ausführen zu können, er¬ scheint es nothwendig, die Höhe der Gefängnißstrafe, mit welcher die Gefahr der Vermuthung der Flucht eintritt, in denjenigen Fällen niedriger zu bestim- men, in denen bereits in einer Instanz eine Verurtheilung erging." Ueber die Zahl solcher Fluchtfälle ist unsers Wissens eine statistische Untersuchung nicht an¬ gestellt , ja sie konnte in der allein maßgebenden Genauigkeit gar nicht angestellt Grenzbottll II. 186S. 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/81>, abgerufen am 26.06.2024.