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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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abzuweisen hat, nach welchem gewisse Leute auch hier alles vom Staate er¬
warten. Dennoch wird Manchem die Darlegung der Meinung jener Partei
interessant sein, nur hätte der Verfasser dann gründlicher aus die englischen
Schulzustände selbst eingehen müssen. Auch sollte man nach dem Titel des
Originals mehr Berücksichtigung des Jneinandergreifens von Industrie und
Schule, wie es sich z. B. in dem Conflict zwischen Kinderarbeit und Schul¬
besuch darstellt, erwarten. So bedürfte dasselbe einer Bearbeitung für das
deutsche Publicum und namentlich einer Ergänzung, die das ganze Unterrichts¬
wesen Englands in Betracht zog, und diese ist hier von dem Uebersetzer, welcher
als Rector der Stuttgarter polytechnischen Schule den Beruf dazu hatte, in sehr
dankenswerther Ausführlichkeit in einem Anhang geliefert, den wir im Folgenden
auszugsweise mittheilen, soweit er sich mit den Universitäten und Gelehrten-
schulen beschäftigt.

Im Allgemeinen ist über die englischen Schulen zu bemerken, daß sie ein
starkes Gewicht auf Charakterbildung. Belebung des Willens und der Thatkraft
legen, der individuellen Entwickelung möglichst viel Spielraum gewähren, zu¬
gleich aber durch strenge Disciplin an Unterwerfung unter Gesetz und Regel
zu gewöhnen suchen, während doch die jungen Leute sich in manchen Be¬
ziehungen freier bewegen dürfen und weniger überwacht sind als bei uns.
Sehr viel wird aus Kräftigung des Körpers gehalten. Systematische Turn¬
übungen zwar kennt man nicht, wohl aber haben die meisten Schulen, selbst
die Universitäten ihre "elreens" (Wiesenplätze) für Cricket. Football und andere
nationale Spiele, und dieselben werden sehr fleißig benutzt, da die Knaben und
Jünglinge nicht wie in Deutschland den größern Theil ihrer freien Zeit mit
Schularbeiten überladen sehen. Weniger lobenswerth ist die Rolle, welche das
Prämienwesen in England spielt. Zwar gehen die feierlichen Bertheilungen
Von Preisen nicht mit so widerwärtigen Pomp vor sich wie in Frankreich, aber
immerhin sind sie öffentliche Acte, über welche die Zeitungen mit Namenan¬
gaben ausführlich Bericht erstatten. An höhern Lehranstalten haben die Preise
oft auch bedeutenden materiellen Werth, an den niedern giebt man kleine
Prämien für lobenswerthe Leistungen jeder Art, und außerdem wird der Ehr¬
geiz durch häufige Versetzungen angespornt. An vielen Schulen kommt es vor,
daß die Schüler nach jeder Stunde in andrer Ordnung sitzen, indem die
Plätze je nach den Antworten auf bestimmte Fragen gewechselt werden.

Universitäten im deutschen Sinn giebt es in Großbritannien und Irland
nicht. Die Hochschulen der vereinigten drei Königreiche sind vielmehr ungefähr
das, was unsre philosophischen Facultäten sind, nur greifen sie einerseits durch
Aufnahme unsrer Gymnasialstudien tiefer herab, andrerseits durch Einreihung
einiger allgemeinen Fächer andrer Facultäten weiter aus; auch werden die
Studenten in den älteren englischen Universitäten nicht als der Schuldisciplin


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abzuweisen hat, nach welchem gewisse Leute auch hier alles vom Staate er¬
warten. Dennoch wird Manchem die Darlegung der Meinung jener Partei
interessant sein, nur hätte der Verfasser dann gründlicher aus die englischen
Schulzustände selbst eingehen müssen. Auch sollte man nach dem Titel des
Originals mehr Berücksichtigung des Jneinandergreifens von Industrie und
Schule, wie es sich z. B. in dem Conflict zwischen Kinderarbeit und Schul¬
besuch darstellt, erwarten. So bedürfte dasselbe einer Bearbeitung für das
deutsche Publicum und namentlich einer Ergänzung, die das ganze Unterrichts¬
wesen Englands in Betracht zog, und diese ist hier von dem Uebersetzer, welcher
als Rector der Stuttgarter polytechnischen Schule den Beruf dazu hatte, in sehr
dankenswerther Ausführlichkeit in einem Anhang geliefert, den wir im Folgenden
auszugsweise mittheilen, soweit er sich mit den Universitäten und Gelehrten-
schulen beschäftigt.

Im Allgemeinen ist über die englischen Schulen zu bemerken, daß sie ein
starkes Gewicht auf Charakterbildung. Belebung des Willens und der Thatkraft
legen, der individuellen Entwickelung möglichst viel Spielraum gewähren, zu¬
gleich aber durch strenge Disciplin an Unterwerfung unter Gesetz und Regel
zu gewöhnen suchen, während doch die jungen Leute sich in manchen Be¬
ziehungen freier bewegen dürfen und weniger überwacht sind als bei uns.
Sehr viel wird aus Kräftigung des Körpers gehalten. Systematische Turn¬
übungen zwar kennt man nicht, wohl aber haben die meisten Schulen, selbst
die Universitäten ihre „elreens" (Wiesenplätze) für Cricket. Football und andere
nationale Spiele, und dieselben werden sehr fleißig benutzt, da die Knaben und
Jünglinge nicht wie in Deutschland den größern Theil ihrer freien Zeit mit
Schularbeiten überladen sehen. Weniger lobenswerth ist die Rolle, welche das
Prämienwesen in England spielt. Zwar gehen die feierlichen Bertheilungen
Von Preisen nicht mit so widerwärtigen Pomp vor sich wie in Frankreich, aber
immerhin sind sie öffentliche Acte, über welche die Zeitungen mit Namenan¬
gaben ausführlich Bericht erstatten. An höhern Lehranstalten haben die Preise
oft auch bedeutenden materiellen Werth, an den niedern giebt man kleine
Prämien für lobenswerthe Leistungen jeder Art, und außerdem wird der Ehr¬
geiz durch häufige Versetzungen angespornt. An vielen Schulen kommt es vor,
daß die Schüler nach jeder Stunde in andrer Ordnung sitzen, indem die
Plätze je nach den Antworten auf bestimmte Fragen gewechselt werden.

Universitäten im deutschen Sinn giebt es in Großbritannien und Irland
nicht. Die Hochschulen der vereinigten drei Königreiche sind vielmehr ungefähr
das, was unsre philosophischen Facultäten sind, nur greifen sie einerseits durch
Aufnahme unsrer Gymnasialstudien tiefer herab, andrerseits durch Einreihung
einiger allgemeinen Fächer andrer Facultäten weiter aus; auch werden die
Studenten in den älteren englischen Universitäten nicht als der Schuldisciplin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/535>, abgerufen am 28.09.2024.