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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Nichts ist so geeignet die Gabe der Beobachtung zu entwickeln als das
Fußwandern. Bei dem reichen Wechselspiel der Stimmungen, den es mit sich
bringt, wird das Auge für das Leben der Natur geschärft, Farben und Formen,
Licht und Schatten geben tiefer in uns ein; der Morgen mit seinem frischen
Jubel, die Poesie des in der Sonne brütenden Mittags, die tiefere Farbe und
freiere Luft des Nachmittags, die Kühle des dämmernden Abends, der mit
dem Anblick der Lichter endet, die dem müden Wandrer aus dem Nachtquartier
winken, alles das wird anders von uns genossen. Aber auch den Charakter
bildet das Fußreisen, sein Hauptwerth liegt darin, daß der Mensch auf sich
selbst angewiesen ist und seine Kraft erproben lernt. In der Novelle "der
Hagestolz" von Stifter fordert ein Erbonkel, daß sein Neffe und Erbe, der nach
zurückgelegten Schuljahren das Haus seiner Pflegemutter verlassen und ein
kleines Amt übernehmen soll, sich ihm vorstelle, und zwar verlangt er, daß der¬
selbe die Reise zu ihm zu Fuß machen solle. Er will damit den Jüngling
Zeit geben, Ruck- und Vorschau zu halten, damit er seine Gefühle allein in-
sich und durch sich zum Abschluß bringe, er betrachtet diesem Ausflug als
pädagogisches Mittel. Als solches können Fußreisen überhaupt mit Recht gelten.
Wer vor oder hinter einem ereignißreichen Abschnitt seines Lebens steht, wer
einen tief in sein Geschick eingreifenden Plan zu erwägen hat, wer einen großen
Schmerz überwinden muß, der wird nicht besser mit sich ins Klare kommen,
als wenn er den Wanderstab ergreift.

Und wie das Wandern den Geist erfrischt und bildet, so kräftigt es den
Körper. Die anhaltende Bewegung arbeitet Blut und Säfte durch, die freie
Luft stärkt Sehnen und Nerven, und mit Elasticität des ganzen Organismus er'
wirbt man ein Capital, welches noch in späten Tagen Früchte bringt.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Morip Busch.
Berlag von F. L. Herbist. -- Druck von C. E- Elbert in Leipzig.
Table d'hotes eingerichtet haben, lernt man den eigenthümlichen Pulsschlag eines
Landes und Stammes kennen, sondern in den Städtchen und Dörfern, welche
selbst der gewöhnlich im Wagen Reisende bei Seite läßt oder einfach durch¬
schneidet. Jede Fußreise ist eine Entdeckungsreise, nur der Wanderer hat Muße
und Gelegenheit, alle die Seiten des menschlichen Lebens, welche einen Bolts-
charakter bilden, kennen zu lernen. Er studirr in den Städten ihre Bauart und
und die Architektur der Häuser, vergleicht auf dem Lande die verschiedenartige
wirthschaftlichen Zustände, er beobachtet die Gegensatze des kirchlichen und ge¬
selligen Lebens, in Sitte und Gewohnheit tritt ihm Glaube und Aberglauben
entgegen, und erst aus der lebendigen Anschauung aller dieser Culturmomente
erbaut sich die wahre Wissenschaft vom Volke, wie sie kein Professor und kein
Buch lehren kann. - >

Nichts ist so geeignet die Gabe der Beobachtung zu entwickeln als das
Fußwandern. Bei dem reichen Wechselspiel der Stimmungen, den es mit sich
bringt, wird das Auge für das Leben der Natur geschärft, Farben und Formen,
Licht und Schatten geben tiefer in uns ein; der Morgen mit seinem frischen
Jubel, die Poesie des in der Sonne brütenden Mittags, die tiefere Farbe und
freiere Luft des Nachmittags, die Kühle des dämmernden Abends, der mit
dem Anblick der Lichter endet, die dem müden Wandrer aus dem Nachtquartier
winken, alles das wird anders von uns genossen. Aber auch den Charakter
bildet das Fußreisen, sein Hauptwerth liegt darin, daß der Mensch auf sich
selbst angewiesen ist und seine Kraft erproben lernt. In der Novelle „der
Hagestolz" von Stifter fordert ein Erbonkel, daß sein Neffe und Erbe, der nach
zurückgelegten Schuljahren das Haus seiner Pflegemutter verlassen und ein
kleines Amt übernehmen soll, sich ihm vorstelle, und zwar verlangt er, daß der¬
selbe die Reise zu ihm zu Fuß machen solle. Er will damit den Jüngling
Zeit geben, Ruck- und Vorschau zu halten, damit er seine Gefühle allein in-
sich und durch sich zum Abschluß bringe, er betrachtet diesem Ausflug als
pädagogisches Mittel. Als solches können Fußreisen überhaupt mit Recht gelten.
Wer vor oder hinter einem ereignißreichen Abschnitt seines Lebens steht, wer
einen tief in sein Geschick eingreifenden Plan zu erwägen hat, wer einen großen
Schmerz überwinden muß, der wird nicht besser mit sich ins Klare kommen,
als wenn er den Wanderstab ergreift.

Und wie das Wandern den Geist erfrischt und bildet, so kräftigt es den
Körper. Die anhaltende Bewegung arbeitet Blut und Säfte durch, die freie
Luft stärkt Sehnen und Nerven, und mit Elasticität des ganzen Organismus er'
wirbt man ein Capital, welches noch in späten Tagen Früchte bringt.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Morip Busch.
Berlag von F. L. Herbist. — Druck von C. E- Elbert in Leipzig.
Table d'hotes eingerichtet haben, lernt man den eigenthümlichen Pulsschlag eines
Landes und Stammes kennen, sondern in den Städtchen und Dörfern, welche
selbst der gewöhnlich im Wagen Reisende bei Seite läßt oder einfach durch¬
schneidet. Jede Fußreise ist eine Entdeckungsreise, nur der Wanderer hat Muße
und Gelegenheit, alle die Seiten des menschlichen Lebens, welche einen Bolts-
charakter bilden, kennen zu lernen. Er studirr in den Städten ihre Bauart und
und die Architektur der Häuser, vergleicht auf dem Lande die verschiedenartige
wirthschaftlichen Zustände, er beobachtet die Gegensatze des kirchlichen und ge¬
selligen Lebens, in Sitte und Gewohnheit tritt ihm Glaube und Aberglauben
entgegen, und erst aus der lebendigen Anschauung aller dieser Culturmomente
erbaut sich die wahre Wissenschaft vom Volke, wie sie kein Professor und kein
Buch lehren kann. - >
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[0382] Nichts ist so geeignet die Gabe der Beobachtung zu entwickeln als das Fußwandern. Bei dem reichen Wechselspiel der Stimmungen, den es mit sich bringt, wird das Auge für das Leben der Natur geschärft, Farben und Formen, Licht und Schatten geben tiefer in uns ein; der Morgen mit seinem frischen Jubel, die Poesie des in der Sonne brütenden Mittags, die tiefere Farbe und freiere Luft des Nachmittags, die Kühle des dämmernden Abends, der mit dem Anblick der Lichter endet, die dem müden Wandrer aus dem Nachtquartier winken, alles das wird anders von uns genossen. Aber auch den Charakter bildet das Fußreisen, sein Hauptwerth liegt darin, daß der Mensch auf sich selbst angewiesen ist und seine Kraft erproben lernt. In der Novelle „der Hagestolz" von Stifter fordert ein Erbonkel, daß sein Neffe und Erbe, der nach zurückgelegten Schuljahren das Haus seiner Pflegemutter verlassen und ein kleines Amt übernehmen soll, sich ihm vorstelle, und zwar verlangt er, daß der¬ selbe die Reise zu ihm zu Fuß machen solle. Er will damit den Jüngling Zeit geben, Ruck- und Vorschau zu halten, damit er seine Gefühle allein in- sich und durch sich zum Abschluß bringe, er betrachtet diesem Ausflug als pädagogisches Mittel. Als solches können Fußreisen überhaupt mit Recht gelten. Wer vor oder hinter einem ereignißreichen Abschnitt seines Lebens steht, wer einen tief in sein Geschick eingreifenden Plan zu erwägen hat, wer einen großen Schmerz überwinden muß, der wird nicht besser mit sich ins Klare kommen, als wenn er den Wanderstab ergreift. Und wie das Wandern den Geist erfrischt und bildet, so kräftigt es den Körper. Die anhaltende Bewegung arbeitet Blut und Säfte durch, die freie Luft stärkt Sehnen und Nerven, und mit Elasticität des ganzen Organismus er' wirbt man ein Capital, welches noch in späten Tagen Früchte bringt. Verantwortlicher Redacteur: Dr. Morip Busch. Berlag von F. L. Herbist. — Druck von C. E- Elbert in Leipzig. Table d'hotes eingerichtet haben, lernt man den eigenthümlichen Pulsschlag eines Landes und Stammes kennen, sondern in den Städtchen und Dörfern, welche selbst der gewöhnlich im Wagen Reisende bei Seite läßt oder einfach durch¬ schneidet. Jede Fußreise ist eine Entdeckungsreise, nur der Wanderer hat Muße und Gelegenheit, alle die Seiten des menschlichen Lebens, welche einen Bolts- charakter bilden, kennen zu lernen. Er studirr in den Städten ihre Bauart und und die Architektur der Häuser, vergleicht auf dem Lande die verschiedenartige wirthschaftlichen Zustände, er beobachtet die Gegensatze des kirchlichen und ge¬ selligen Lebens, in Sitte und Gewohnheit tritt ihm Glaube und Aberglauben entgegen, und erst aus der lebendigen Anschauung aller dieser Culturmomente erbaut sich die wahre Wissenschaft vom Volke, wie sie kein Professor und kein Buch lehren kann. - >

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/382>, abgerufen am 29.06.2024.