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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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nisse mit der Malerei, wie es die gothische mit der Skulptur einging. Vortrcff-
trefflich führt Julius Meyer in einem dritten Aufsatze den ästhetischen Grund der
Polychromie der alten Tempelbauten aus. Die Tempel der Griechen waren,
wie auch uns nicht zweifelhaft ist, selbst in den Zeiten, da sie aus dem edelsten
Material gebaut wurden, von Außen ganz gefärbt, in einer Technik, die wir
uns der ganzen Kunstthätigkeit jener feinsinnigen Zeit ebenbürtig zu denken
haben. Wie ein Festgewand umgab die farbige Bekleidung den Bau, dessen
Structur durch seine Hülle nun ähnlich hindurchschien wie das innere Gerüst
des Körpers durch Fleisch und Haut hindurch sich fühlen und errathen läßt.
Der Bau schien "der Angst des Werdens und Entstehens" enthoben und
wie ein ewig fertiges, aus sich gewordenes Wesen, in dem ein heimliches
schönes Wesen pulsirt. Aber die Dienstleistung der Malerei begann schon, wie wir
hinzufügen wollen, in der Construction selbst. Die langen Linien des Frieses
und der Stufen sind nicht gerade, sondern leichtgeschwungene Curven, die
Säulen haben eine Neigung gegen das Tempelhaus, und, daß sie sie haben
sollten, beweist der Schnitt ihrer einzelnen Werkstücke; die Giebelfelder zeigen
eine sanfte Krümmung, um dem Spiel des Zwielichtes Raum zu geben, der
Raumabstand zwischen den einzelnen Säulen endlich ist nicht überall der gleiche
und scheint auf einen bestimmten Standpunkt des Beschauers berechnet. Alles
dies sind malerische Modificationen des constructiver Princips. Und die Absicht
bei der Anwendung dieser Mittel? Sie sollen das Auge unvermerkt von der
Gewöhnung architektonischen Sehens losreißen und dem Bau den Schein selbst¬
ständigen organischen Lebens verleihen. Und wie die griechische Architektur,
welche es mit der Dimension der Breite zu thun hat, sich die Malerei zu
ihrer Gehilfin erwählte, so sah sich die hochstrebende gothische auf die Plastik
angewiesen. Die Malerei aber nimmt hier etwa den Raum ein, den die
Plastik dort. Die Gothik, indem sie die Flächen auflöst, läßt ihr nur die
Fenster übrig; aber hier vermag sie wieder den heiligen Gestalten eine dem
Sinne des Ganzen entsprechende Erscheinung zu verleihen. Sie gewährt ihnen,
was die Theologie ihnen zuspricht, geistige Körper.




nisse mit der Malerei, wie es die gothische mit der Skulptur einging. Vortrcff-
trefflich führt Julius Meyer in einem dritten Aufsatze den ästhetischen Grund der
Polychromie der alten Tempelbauten aus. Die Tempel der Griechen waren,
wie auch uns nicht zweifelhaft ist, selbst in den Zeiten, da sie aus dem edelsten
Material gebaut wurden, von Außen ganz gefärbt, in einer Technik, die wir
uns der ganzen Kunstthätigkeit jener feinsinnigen Zeit ebenbürtig zu denken
haben. Wie ein Festgewand umgab die farbige Bekleidung den Bau, dessen
Structur durch seine Hülle nun ähnlich hindurchschien wie das innere Gerüst
des Körpers durch Fleisch und Haut hindurch sich fühlen und errathen läßt.
Der Bau schien „der Angst des Werdens und Entstehens" enthoben und
wie ein ewig fertiges, aus sich gewordenes Wesen, in dem ein heimliches
schönes Wesen pulsirt. Aber die Dienstleistung der Malerei begann schon, wie wir
hinzufügen wollen, in der Construction selbst. Die langen Linien des Frieses
und der Stufen sind nicht gerade, sondern leichtgeschwungene Curven, die
Säulen haben eine Neigung gegen das Tempelhaus, und, daß sie sie haben
sollten, beweist der Schnitt ihrer einzelnen Werkstücke; die Giebelfelder zeigen
eine sanfte Krümmung, um dem Spiel des Zwielichtes Raum zu geben, der
Raumabstand zwischen den einzelnen Säulen endlich ist nicht überall der gleiche
und scheint auf einen bestimmten Standpunkt des Beschauers berechnet. Alles
dies sind malerische Modificationen des constructiver Princips. Und die Absicht
bei der Anwendung dieser Mittel? Sie sollen das Auge unvermerkt von der
Gewöhnung architektonischen Sehens losreißen und dem Bau den Schein selbst¬
ständigen organischen Lebens verleihen. Und wie die griechische Architektur,
welche es mit der Dimension der Breite zu thun hat, sich die Malerei zu
ihrer Gehilfin erwählte, so sah sich die hochstrebende gothische auf die Plastik
angewiesen. Die Malerei aber nimmt hier etwa den Raum ein, den die
Plastik dort. Die Gothik, indem sie die Flächen auflöst, läßt ihr nur die
Fenster übrig; aber hier vermag sie wieder den heiligen Gestalten eine dem
Sinne des Ganzen entsprechende Erscheinung zu verleihen. Sie gewährt ihnen,
was die Theologie ihnen zuspricht, geistige Körper.




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[0356] nisse mit der Malerei, wie es die gothische mit der Skulptur einging. Vortrcff- trefflich führt Julius Meyer in einem dritten Aufsatze den ästhetischen Grund der Polychromie der alten Tempelbauten aus. Die Tempel der Griechen waren, wie auch uns nicht zweifelhaft ist, selbst in den Zeiten, da sie aus dem edelsten Material gebaut wurden, von Außen ganz gefärbt, in einer Technik, die wir uns der ganzen Kunstthätigkeit jener feinsinnigen Zeit ebenbürtig zu denken haben. Wie ein Festgewand umgab die farbige Bekleidung den Bau, dessen Structur durch seine Hülle nun ähnlich hindurchschien wie das innere Gerüst des Körpers durch Fleisch und Haut hindurch sich fühlen und errathen läßt. Der Bau schien „der Angst des Werdens und Entstehens" enthoben und wie ein ewig fertiges, aus sich gewordenes Wesen, in dem ein heimliches schönes Wesen pulsirt. Aber die Dienstleistung der Malerei begann schon, wie wir hinzufügen wollen, in der Construction selbst. Die langen Linien des Frieses und der Stufen sind nicht gerade, sondern leichtgeschwungene Curven, die Säulen haben eine Neigung gegen das Tempelhaus, und, daß sie sie haben sollten, beweist der Schnitt ihrer einzelnen Werkstücke; die Giebelfelder zeigen eine sanfte Krümmung, um dem Spiel des Zwielichtes Raum zu geben, der Raumabstand zwischen den einzelnen Säulen endlich ist nicht überall der gleiche und scheint auf einen bestimmten Standpunkt des Beschauers berechnet. Alles dies sind malerische Modificationen des constructiver Princips. Und die Absicht bei der Anwendung dieser Mittel? Sie sollen das Auge unvermerkt von der Gewöhnung architektonischen Sehens losreißen und dem Bau den Schein selbst¬ ständigen organischen Lebens verleihen. Und wie die griechische Architektur, welche es mit der Dimension der Breite zu thun hat, sich die Malerei zu ihrer Gehilfin erwählte, so sah sich die hochstrebende gothische auf die Plastik angewiesen. Die Malerei aber nimmt hier etwa den Raum ein, den die Plastik dort. Die Gothik, indem sie die Flächen auflöst, läßt ihr nur die Fenster übrig; aber hier vermag sie wieder den heiligen Gestalten eine dem Sinne des Ganzen entsprechende Erscheinung zu verleihen. Sie gewährt ihnen, was die Theologie ihnen zuspricht, geistige Körper.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/356>, abgerufen am 28.09.2024.