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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Kunst ist immer ein Können der Nationalität, und eine italische Nationalität
gab es in der gedachten Zeit nicht mehr. Man dichtete und schrieb lateinisch,
aber in einem Geiste, der, entsprechend der politischen Verquickung der Mittel¬
meervölker durch das Cäsarenreich. ein Gemisch entnationalisirten Hellenen- und
Römerthums mit Vorwiegen des ersteren war. Von den frischen Kräften einer
natürlichen Volksseele war nicht mehr die Rede, wie der ganze Organismus
des Weltreichs war auch die Literatur und Poesie desselben ein Product der
Kunst. Wie aber jener als die großartigste Schöpfung der ältesten Geschichte er¬
scheint, so haben auch diese Leistungen auszuweisen, die im Vergleich mit dem,
was die spätere Zeit darbietet, classisch zu nennen sind, und so ist nichts da¬
gegen einzuwenden, wenn die Periode, in welcher Cäsar und Cicero, dann
Horaz und Properz, Virgil und Ovid schrieben, als die "goldne Zeit" der
Literatur des römischen Reichs bezeichnet wird.

Die nächsten Jahrzehnte nach den Tagen, da Mäcens Kunstliebe die Villa
auf dem esquilinischen Berge in einen römischen Parnaß verwandelt, waren
der Literatur nicht günstig. Die Kaiser nach August zeigten allerdings größten-
theils ein gewisses äußerliches Interesse für sie, aber ihr Despotismus litt,
wie überhaupt so auch auf diesem Gebiete keine Regung selbständiger Kraft.
Einige lichtere Momente ausgenommen waren Wort und Sckrift gebunden,
man durfte geistreich sein, aber nicht ohne Gefahr originell, Declamatoren-
wesen, forcirte Rhetorik ist der Stempel, den die Literatur dieser ganzen Epoche
trägt. Erst nach dem Tode Domitians athmete man wieder Morgenluft, unter
Nerva begann es zu tagen, unter seinem Nachfolger Trajan ging die Sonne
der Freiheit wieder aus, unter ihr sing auch die Literatur wieder an zu blühen,
und es war nicht blos eine Nachblüthe.

Schon unter Domitian hatte Quinctilian durch Rückkehr zu der classischen
Form der ciceronianischen Prosa mit ihren Perioden und Cadenzen auf stili¬
stischen Gebiet für die Renaissance der Literatur zu wirken versucht. Unter des¬
sen Einfluß gebildet, eiferte dann der jüngere Plinius .demselben Vorbilde
nicht ohne Erfolge nach. Zu gleicher Zeit endlich und anfänglich ebenfalls (so
wenigstens in seiner Erstlingsschrift, dem Gespräch von den Rednern) ein Be¬
wunderer Ciceros, begann Facitus die Fülle seiner bis dahin zurückgedrängten
schöpferischen Kraft zu entfalten. Er ist kein Nachahmer mehr, das Gemachte,
Gelernte und Geschulte an Quinctilian und Plinius ist ihm ser-n, die neue
freiere Zeit hat in ihm nicht ein neues Talent, sondern einen neuen Genius
geboren, der in voller Selbständigkeit seine eigenen Bahnen geht. Mit un¬
widerstehlicher Gewalt weiß er den Leser zu fesseln, mit dem Adel seiner hohen
Seele umfaßt er alles Große und Edle, mit kurzem, aber um so schwerer treffen¬
den Wort brandmarkt er das Niedrige und Schlechte, vor allem Heuchelei und
Bedientensinn. Tief dringt sein Blick in der Menschen verborgene Rathschläge,


Kunst ist immer ein Können der Nationalität, und eine italische Nationalität
gab es in der gedachten Zeit nicht mehr. Man dichtete und schrieb lateinisch,
aber in einem Geiste, der, entsprechend der politischen Verquickung der Mittel¬
meervölker durch das Cäsarenreich. ein Gemisch entnationalisirten Hellenen- und
Römerthums mit Vorwiegen des ersteren war. Von den frischen Kräften einer
natürlichen Volksseele war nicht mehr die Rede, wie der ganze Organismus
des Weltreichs war auch die Literatur und Poesie desselben ein Product der
Kunst. Wie aber jener als die großartigste Schöpfung der ältesten Geschichte er¬
scheint, so haben auch diese Leistungen auszuweisen, die im Vergleich mit dem,
was die spätere Zeit darbietet, classisch zu nennen sind, und so ist nichts da¬
gegen einzuwenden, wenn die Periode, in welcher Cäsar und Cicero, dann
Horaz und Properz, Virgil und Ovid schrieben, als die „goldne Zeit" der
Literatur des römischen Reichs bezeichnet wird.

Die nächsten Jahrzehnte nach den Tagen, da Mäcens Kunstliebe die Villa
auf dem esquilinischen Berge in einen römischen Parnaß verwandelt, waren
der Literatur nicht günstig. Die Kaiser nach August zeigten allerdings größten-
theils ein gewisses äußerliches Interesse für sie, aber ihr Despotismus litt,
wie überhaupt so auch auf diesem Gebiete keine Regung selbständiger Kraft.
Einige lichtere Momente ausgenommen waren Wort und Sckrift gebunden,
man durfte geistreich sein, aber nicht ohne Gefahr originell, Declamatoren-
wesen, forcirte Rhetorik ist der Stempel, den die Literatur dieser ganzen Epoche
trägt. Erst nach dem Tode Domitians athmete man wieder Morgenluft, unter
Nerva begann es zu tagen, unter seinem Nachfolger Trajan ging die Sonne
der Freiheit wieder aus, unter ihr sing auch die Literatur wieder an zu blühen,
und es war nicht blos eine Nachblüthe.

Schon unter Domitian hatte Quinctilian durch Rückkehr zu der classischen
Form der ciceronianischen Prosa mit ihren Perioden und Cadenzen auf stili¬
stischen Gebiet für die Renaissance der Literatur zu wirken versucht. Unter des¬
sen Einfluß gebildet, eiferte dann der jüngere Plinius .demselben Vorbilde
nicht ohne Erfolge nach. Zu gleicher Zeit endlich und anfänglich ebenfalls (so
wenigstens in seiner Erstlingsschrift, dem Gespräch von den Rednern) ein Be¬
wunderer Ciceros, begann Facitus die Fülle seiner bis dahin zurückgedrängten
schöpferischen Kraft zu entfalten. Er ist kein Nachahmer mehr, das Gemachte,
Gelernte und Geschulte an Quinctilian und Plinius ist ihm ser-n, die neue
freiere Zeit hat in ihm nicht ein neues Talent, sondern einen neuen Genius
geboren, der in voller Selbständigkeit seine eigenen Bahnen geht. Mit un¬
widerstehlicher Gewalt weiß er den Leser zu fesseln, mit dem Adel seiner hohen
Seele umfaßt er alles Große und Edle, mit kurzem, aber um so schwerer treffen¬
den Wort brandmarkt er das Niedrige und Schlechte, vor allem Heuchelei und
Bedientensinn. Tief dringt sein Blick in der Menschen verborgene Rathschläge,


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[0318] Kunst ist immer ein Können der Nationalität, und eine italische Nationalität gab es in der gedachten Zeit nicht mehr. Man dichtete und schrieb lateinisch, aber in einem Geiste, der, entsprechend der politischen Verquickung der Mittel¬ meervölker durch das Cäsarenreich. ein Gemisch entnationalisirten Hellenen- und Römerthums mit Vorwiegen des ersteren war. Von den frischen Kräften einer natürlichen Volksseele war nicht mehr die Rede, wie der ganze Organismus des Weltreichs war auch die Literatur und Poesie desselben ein Product der Kunst. Wie aber jener als die großartigste Schöpfung der ältesten Geschichte er¬ scheint, so haben auch diese Leistungen auszuweisen, die im Vergleich mit dem, was die spätere Zeit darbietet, classisch zu nennen sind, und so ist nichts da¬ gegen einzuwenden, wenn die Periode, in welcher Cäsar und Cicero, dann Horaz und Properz, Virgil und Ovid schrieben, als die „goldne Zeit" der Literatur des römischen Reichs bezeichnet wird. Die nächsten Jahrzehnte nach den Tagen, da Mäcens Kunstliebe die Villa auf dem esquilinischen Berge in einen römischen Parnaß verwandelt, waren der Literatur nicht günstig. Die Kaiser nach August zeigten allerdings größten- theils ein gewisses äußerliches Interesse für sie, aber ihr Despotismus litt, wie überhaupt so auch auf diesem Gebiete keine Regung selbständiger Kraft. Einige lichtere Momente ausgenommen waren Wort und Sckrift gebunden, man durfte geistreich sein, aber nicht ohne Gefahr originell, Declamatoren- wesen, forcirte Rhetorik ist der Stempel, den die Literatur dieser ganzen Epoche trägt. Erst nach dem Tode Domitians athmete man wieder Morgenluft, unter Nerva begann es zu tagen, unter seinem Nachfolger Trajan ging die Sonne der Freiheit wieder aus, unter ihr sing auch die Literatur wieder an zu blühen, und es war nicht blos eine Nachblüthe. Schon unter Domitian hatte Quinctilian durch Rückkehr zu der classischen Form der ciceronianischen Prosa mit ihren Perioden und Cadenzen auf stili¬ stischen Gebiet für die Renaissance der Literatur zu wirken versucht. Unter des¬ sen Einfluß gebildet, eiferte dann der jüngere Plinius .demselben Vorbilde nicht ohne Erfolge nach. Zu gleicher Zeit endlich und anfänglich ebenfalls (so wenigstens in seiner Erstlingsschrift, dem Gespräch von den Rednern) ein Be¬ wunderer Ciceros, begann Facitus die Fülle seiner bis dahin zurückgedrängten schöpferischen Kraft zu entfalten. Er ist kein Nachahmer mehr, das Gemachte, Gelernte und Geschulte an Quinctilian und Plinius ist ihm ser-n, die neue freiere Zeit hat in ihm nicht ein neues Talent, sondern einen neuen Genius geboren, der in voller Selbständigkeit seine eigenen Bahnen geht. Mit un¬ widerstehlicher Gewalt weiß er den Leser zu fesseln, mit dem Adel seiner hohen Seele umfaßt er alles Große und Edle, mit kurzem, aber um so schwerer treffen¬ den Wort brandmarkt er das Niedrige und Schlechte, vor allem Heuchelei und Bedientensinn. Tief dringt sein Blick in der Menschen verborgene Rathschläge,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/318>, abgerufen am 29.06.2024.