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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Zwei MMsche Romane.

Aus der griechisch-römischen Periode des jüdischen Volkes von Alexander
bis zur Zerstörung Jerusalems sind uns mehre literarische Producte erhalten,
welche nur als Romane bezeichnet werden können. Erzählungen, welche nicht
unter dem Einfluß der Nationalsage, sondern frei nach der dichtenden Willkür
der Versasser gebildet sind und sich höchstens in einigen Einzelheiten an eine
Ueberlieferung halten. Abgesehen von einzelnen romanhaften Partien in
Schriften anderer Gattung aus dieser Zeit -- ich erinnere nur an Einiges im
Buch Daniel, namentlich das prachtvolle fünfte Capitel -- können wir hier vier
Bücher nennen: Esther. Tobie*), Judith und das Buch des Aristeas. Ich
führe die Bücher nach der muthmaßlichen chronologischen Ordnung auf. Von
ihnen sind Esther und Judith ursprünglich hebräisch geschrieben, und dem Um¬
stände, daß ersteres Buch früh als kanonisch galt, verdanken wir die Er¬
haltung des Originals, während uns Judith nur in griechischer Uebersetzung
vorliegt. Daß auch Tobie zuerst hebräisch oder aramäisch geschrieben war, wie
man gewöhnlich behauptet, bestätigt die nähere Untersuchung nicht, welche den
uns vorliegenden griechischen Text als den ursprünglichen ausweist.

Von den genannten Romanen steht das Buch Tobie bei weitem am höchsten;
das Buch Judith ist ein immer noch ehrenwerthes Erzeugnis; der makkabäischen
Heidenzeit, dagegen stehen die beiden anderen auf einer viel niedrigeren Stufe.
Indem ich mir vorbehalte, das edlere Paar einmal später zu behandeln,
wollen wir uns diesmal auf eine Besprechung der beiden anderen Bücher
beschränken.

1. Das Buch Esther.

Da das Buch Esther als kanonisch in jedem Exemplar des alten Testa¬
mentes steht, so ist vorauszusetzen, daß sein Inhalt den Lesern dieser Blätter
bekannt ist. Um jedoch ihrem Gedächtniß etwas zu Hilfe zu kommen, wollen
wir kurz die Hauptzüge der Erzählung darstellen.



") Dies ist die richtige Form. Im Urtext heißt so der Vater und nur der Sohn Tobias.
Grenzvoten II. 186S. 16
Zwei MMsche Romane.

Aus der griechisch-römischen Periode des jüdischen Volkes von Alexander
bis zur Zerstörung Jerusalems sind uns mehre literarische Producte erhalten,
welche nur als Romane bezeichnet werden können. Erzählungen, welche nicht
unter dem Einfluß der Nationalsage, sondern frei nach der dichtenden Willkür
der Versasser gebildet sind und sich höchstens in einigen Einzelheiten an eine
Ueberlieferung halten. Abgesehen von einzelnen romanhaften Partien in
Schriften anderer Gattung aus dieser Zeit — ich erinnere nur an Einiges im
Buch Daniel, namentlich das prachtvolle fünfte Capitel — können wir hier vier
Bücher nennen: Esther. Tobie*), Judith und das Buch des Aristeas. Ich
führe die Bücher nach der muthmaßlichen chronologischen Ordnung auf. Von
ihnen sind Esther und Judith ursprünglich hebräisch geschrieben, und dem Um¬
stände, daß ersteres Buch früh als kanonisch galt, verdanken wir die Er¬
haltung des Originals, während uns Judith nur in griechischer Uebersetzung
vorliegt. Daß auch Tobie zuerst hebräisch oder aramäisch geschrieben war, wie
man gewöhnlich behauptet, bestätigt die nähere Untersuchung nicht, welche den
uns vorliegenden griechischen Text als den ursprünglichen ausweist.

Von den genannten Romanen steht das Buch Tobie bei weitem am höchsten;
das Buch Judith ist ein immer noch ehrenwerthes Erzeugnis; der makkabäischen
Heidenzeit, dagegen stehen die beiden anderen auf einer viel niedrigeren Stufe.
Indem ich mir vorbehalte, das edlere Paar einmal später zu behandeln,
wollen wir uns diesmal auf eine Besprechung der beiden anderen Bücher
beschränken.

1. Das Buch Esther.

Da das Buch Esther als kanonisch in jedem Exemplar des alten Testa¬
mentes steht, so ist vorauszusetzen, daß sein Inhalt den Lesern dieser Blätter
bekannt ist. Um jedoch ihrem Gedächtniß etwas zu Hilfe zu kommen, wollen
wir kurz die Hauptzüge der Erzählung darstellen.



") Dies ist die richtige Form. Im Urtext heißt so der Vater und nur der Sohn Tobias.
Grenzvoten II. 186S. 16
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[0133] Zwei MMsche Romane. Aus der griechisch-römischen Periode des jüdischen Volkes von Alexander bis zur Zerstörung Jerusalems sind uns mehre literarische Producte erhalten, welche nur als Romane bezeichnet werden können. Erzählungen, welche nicht unter dem Einfluß der Nationalsage, sondern frei nach der dichtenden Willkür der Versasser gebildet sind und sich höchstens in einigen Einzelheiten an eine Ueberlieferung halten. Abgesehen von einzelnen romanhaften Partien in Schriften anderer Gattung aus dieser Zeit — ich erinnere nur an Einiges im Buch Daniel, namentlich das prachtvolle fünfte Capitel — können wir hier vier Bücher nennen: Esther. Tobie*), Judith und das Buch des Aristeas. Ich führe die Bücher nach der muthmaßlichen chronologischen Ordnung auf. Von ihnen sind Esther und Judith ursprünglich hebräisch geschrieben, und dem Um¬ stände, daß ersteres Buch früh als kanonisch galt, verdanken wir die Er¬ haltung des Originals, während uns Judith nur in griechischer Uebersetzung vorliegt. Daß auch Tobie zuerst hebräisch oder aramäisch geschrieben war, wie man gewöhnlich behauptet, bestätigt die nähere Untersuchung nicht, welche den uns vorliegenden griechischen Text als den ursprünglichen ausweist. Von den genannten Romanen steht das Buch Tobie bei weitem am höchsten; das Buch Judith ist ein immer noch ehrenwerthes Erzeugnis; der makkabäischen Heidenzeit, dagegen stehen die beiden anderen auf einer viel niedrigeren Stufe. Indem ich mir vorbehalte, das edlere Paar einmal später zu behandeln, wollen wir uns diesmal auf eine Besprechung der beiden anderen Bücher beschränken. 1. Das Buch Esther. Da das Buch Esther als kanonisch in jedem Exemplar des alten Testa¬ mentes steht, so ist vorauszusetzen, daß sein Inhalt den Lesern dieser Blätter bekannt ist. Um jedoch ihrem Gedächtniß etwas zu Hilfe zu kommen, wollen wir kurz die Hauptzüge der Erzählung darstellen. ") Dies ist die richtige Form. Im Urtext heißt so der Vater und nur der Sohn Tobias. Grenzvoten II. 186S. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/133>, abgerufen am 26.06.2024.