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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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wenn auch langsamem und nicht selten verborgenem Wachsen ihren stetigen Fort¬
gang. Dabei fiel es auch dem eigenartigen Künstler nicht ein, die Formen,
welche die Arbeit des Vorgängers oder des Zeitgenossen aus dem Schacht der
Antike wieder hervorgeholt hatte, eigensinnig von sich abzuweisen, sondern er
nahm sie aus dieser zweiten Hand, um was ihm seine Phantasie eingab, in
um so klarerer und festerer Erscheinung an den Tag zu bringen. So bildete
sich der lebendige Zusammenhang und die Wechselwirkung der verschiedenen
Richtungen, durch welche die italienische Kunst das Höchste erreichte. Denn
auch diese selbständige Umbildung der überlieferten Formen durch den neuen
Inhalt und die neue Naturanschauung wirkte auf die classischen Schulen zurück
und aus diesem fruchtbaren Doppelleben entstand zuletzt die wurde-rbare Ver¬
schmelzung der antiken und der neuen Formenwelt, in welcher die Lionardo,
Raphael, Michelangelo und Tizian, die Brunelleschi. Peruzzi und Bramante
das zweite Vorbild der Kunst schufen.

So widerlegt die Renaissance auch noch das Andere: daß nämlich die Rück¬
kehr zu den vollendeten Mustern den Künstler in einer sklavischen Nachbildung
halte. Wem unter den Künstlern jener Zeit hätte die Begeisterung für die
antike Schönheit Abbruch gethan? Die Poeten, ein Petrarca und Boccaccio,
schrieben sogar in lateinischen Versen über Dinge des alten Roms und im rö¬
mischen Sinne, ja deshalb hielten sie sich für unsterblich; sind deshalb ihre
italienischen Dichtungen weniger eigenthümlich und unvergänglich? Selbst wenn
die Cinquecentisten zur griechischen Götterwelt zurückgriffen und nur um so
enger also an die antiken Formen gebunden schienen, blieben sie eigenthümlich
sie faßten ihre Lust und Empfindung des Lebens in die nackten Idealgestalten
und gaben ihnen den malerischen Wurf ihrer Anschauung. In abgeschlossenen
Bildungen schienen die griechische und römische Architektur verfestigt zu sein;
und doch haben die Italiener von Brunelleschi bis auf Bramante und Palladio
ihre Formen wieder in Fluß zu bringen und zu neuen organischen Schöpfungen
für neue Zwecke, für kirchliche, wie öffentliche und für den edlen Genuß eines
reich entwickelten Daseins zu gliedern und zu verbinden vermocht. Freilich, die
in unserm Jahrhundert neu aufgelegte "deutsche" Baukunst (sie will es natür¬
lich nicht Wort haben, daß sie im Grunde französischen Ursprungs ist) sieht im
stolzen Bewußtsein ihrer "nationalen" Constructionsstrenge auf das Formenspiel
und die ausländische Schönheit des Renaissancestils mit Geringschätzung herab.
Aber sie selber muß ja, wenn sie den Raum für unsere Lebensart und unsere
Bedürfnisse herstellen will, ihrem constructiver Princip, dem einseitig vertikalen
Aufbau und dem Spitzbogen -- der nur als die Form für die Einheit in der
Mannigfaltigkeit des Gewölbebaues, daher nur als constructives Glied Sinn
und Ausdruck hat -- abtrünnig werden und sich mit einem bedeutungslosen
Ornamentcnspicl begnügen, das armselig in der Erfindung blos eine fortwäh-


wenn auch langsamem und nicht selten verborgenem Wachsen ihren stetigen Fort¬
gang. Dabei fiel es auch dem eigenartigen Künstler nicht ein, die Formen,
welche die Arbeit des Vorgängers oder des Zeitgenossen aus dem Schacht der
Antike wieder hervorgeholt hatte, eigensinnig von sich abzuweisen, sondern er
nahm sie aus dieser zweiten Hand, um was ihm seine Phantasie eingab, in
um so klarerer und festerer Erscheinung an den Tag zu bringen. So bildete
sich der lebendige Zusammenhang und die Wechselwirkung der verschiedenen
Richtungen, durch welche die italienische Kunst das Höchste erreichte. Denn
auch diese selbständige Umbildung der überlieferten Formen durch den neuen
Inhalt und die neue Naturanschauung wirkte auf die classischen Schulen zurück
und aus diesem fruchtbaren Doppelleben entstand zuletzt die wurde-rbare Ver¬
schmelzung der antiken und der neuen Formenwelt, in welcher die Lionardo,
Raphael, Michelangelo und Tizian, die Brunelleschi. Peruzzi und Bramante
das zweite Vorbild der Kunst schufen.

So widerlegt die Renaissance auch noch das Andere: daß nämlich die Rück¬
kehr zu den vollendeten Mustern den Künstler in einer sklavischen Nachbildung
halte. Wem unter den Künstlern jener Zeit hätte die Begeisterung für die
antike Schönheit Abbruch gethan? Die Poeten, ein Petrarca und Boccaccio,
schrieben sogar in lateinischen Versen über Dinge des alten Roms und im rö¬
mischen Sinne, ja deshalb hielten sie sich für unsterblich; sind deshalb ihre
italienischen Dichtungen weniger eigenthümlich und unvergänglich? Selbst wenn
die Cinquecentisten zur griechischen Götterwelt zurückgriffen und nur um so
enger also an die antiken Formen gebunden schienen, blieben sie eigenthümlich
sie faßten ihre Lust und Empfindung des Lebens in die nackten Idealgestalten
und gaben ihnen den malerischen Wurf ihrer Anschauung. In abgeschlossenen
Bildungen schienen die griechische und römische Architektur verfestigt zu sein;
und doch haben die Italiener von Brunelleschi bis auf Bramante und Palladio
ihre Formen wieder in Fluß zu bringen und zu neuen organischen Schöpfungen
für neue Zwecke, für kirchliche, wie öffentliche und für den edlen Genuß eines
reich entwickelten Daseins zu gliedern und zu verbinden vermocht. Freilich, die
in unserm Jahrhundert neu aufgelegte „deutsche" Baukunst (sie will es natür¬
lich nicht Wort haben, daß sie im Grunde französischen Ursprungs ist) sieht im
stolzen Bewußtsein ihrer „nationalen" Constructionsstrenge auf das Formenspiel
und die ausländische Schönheit des Renaissancestils mit Geringschätzung herab.
Aber sie selber muß ja, wenn sie den Raum für unsere Lebensart und unsere
Bedürfnisse herstellen will, ihrem constructiver Princip, dem einseitig vertikalen
Aufbau und dem Spitzbogen — der nur als die Form für die Einheit in der
Mannigfaltigkeit des Gewölbebaues, daher nur als constructives Glied Sinn
und Ausdruck hat — abtrünnig werden und sich mit einem bedeutungslosen
Ornamentcnspicl begnügen, das armselig in der Erfindung blos eine fortwäh-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/96>, abgerufen am 23.07.2024.