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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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schon seit länger als 30 Jahren ein anderer Privatdocent an, der Hofmedicus
Schröder, Director der städtischen Irren- Heil- und Pflegeanstalt, welcher
hier deshalb genannt werden muß, weil er der alleinige Docent ist, welcher
das Fach der Geisteskrankheiten vertritt oder vielmehr durch Ankündigung von
Vorlesungen alle halbe Jahre zu vertreten sich bereit erklärt.

Wegen der nahen Beziehungen der Naturwissenschaften zu der Medicin
mögen hier gleich die Lehrer der ersteren angereiht werden.

Professor der "Naturgeschichte", wie der amtliche Ausdruck lautet, oder
vielmehr der Zoologie und der Botanik ist seit ungefähr 30 Jahren Johann
Royer, Enkel eines vor hundert Jahren aus dem callenbergischen Institut zu
Halle in Mecklenburg eingewanderten Judenmissionärs. In seinem Hauptfache,
der Botanik, genießt er eines ehrenvollen Rufes. Er hat "zur Flora Mecklen¬
burgs" ein in zwei Abtheilungen erschienenes Rectoratsprogramm veröffentlicht.
Als Lehrer und Leiter botanischer Excursionen wird er von den Studenten ge¬
schätzt. In kirchlicher und politischer Hinsicht steht er auf Seiten einer extremen
Reaction, scheint indessen, was ersteres betrifft, doch noch immer Mühe zu
haben, sich von den Traditionen der schweizerischen Frommen, die er als Pro¬
fessor in Basel zu seinen Parteigenossen zählte, zu einem soliden, symbolisch¬
orthodoxen lutherischen Christen nach dem Herzen Kliefoths emporzuschwingen.
In öffentlichen Vorträgen vor einem gemischten Publikum, die er aber nicht
frei zu halten weiß, sondern mit monotoner Stimme abliest, liebt er es, die
Ohren der Damen mit schlüpfrigen Anspielungen und Bildern und die der
Herren mit höhnenden Reden auf die "Demokraten" zu kitzeln. In seiner
letzten Rectoratsrede bekämpfte er die darwynsche Theorie von der Entstehung
der Arten durch die Bemerkung, daß dann wohl gar einmal im Verlauf der
Jahrtausende der "Brüllaffe" sich zum "Demokraten" gestalten könnte. Es
gibt dies zugleich eine Probe von der Stufe, auf welcher der Witz dieses
Mannes steht; dennoch richtet er bei solchen Stellen einen schelmischen und den
Beifall Herausfordenden Blick auf sein vorherrschend reactionär gesinntes Publikum,
welches meistens den Tact besitzt, solchen Scherzen das gewünschte Ge¬
lächter zu versagen. Früher soll er sich auch mit allerlei Mystik getragen
und z. B. in einer Rectoratsrede im Jahre 184S die Beziehung der Fünfzahl
im Pflanzenorganismus auf die Wundenmale Jesu zur Geltung zu bringen
versucht haben. Royer ist Mitglied des Hciuptvereins für innere Mission und
Ehrenmitglied des rostvcker Handwerkervereins, welcher den Zweck verfolgt,
das Zunftwesen gegen das Vordringen der Gewerbefreiheit und der Maschinen¬
industrie zu schützen.

Seine reactioncire politische Richtung hinderte ihn übrigens nicht, im
März des Jahres 1848 den Antrag der Universität auf Reform der Landesver¬
fassung und Preßfreiheit zu unterzeichnen und sich auch im weitern Verlause


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schon seit länger als 30 Jahren ein anderer Privatdocent an, der Hofmedicus
Schröder, Director der städtischen Irren- Heil- und Pflegeanstalt, welcher
hier deshalb genannt werden muß, weil er der alleinige Docent ist, welcher
das Fach der Geisteskrankheiten vertritt oder vielmehr durch Ankündigung von
Vorlesungen alle halbe Jahre zu vertreten sich bereit erklärt.

Wegen der nahen Beziehungen der Naturwissenschaften zu der Medicin
mögen hier gleich die Lehrer der ersteren angereiht werden.

Professor der „Naturgeschichte", wie der amtliche Ausdruck lautet, oder
vielmehr der Zoologie und der Botanik ist seit ungefähr 30 Jahren Johann
Royer, Enkel eines vor hundert Jahren aus dem callenbergischen Institut zu
Halle in Mecklenburg eingewanderten Judenmissionärs. In seinem Hauptfache,
der Botanik, genießt er eines ehrenvollen Rufes. Er hat „zur Flora Mecklen¬
burgs" ein in zwei Abtheilungen erschienenes Rectoratsprogramm veröffentlicht.
Als Lehrer und Leiter botanischer Excursionen wird er von den Studenten ge¬
schätzt. In kirchlicher und politischer Hinsicht steht er auf Seiten einer extremen
Reaction, scheint indessen, was ersteres betrifft, doch noch immer Mühe zu
haben, sich von den Traditionen der schweizerischen Frommen, die er als Pro¬
fessor in Basel zu seinen Parteigenossen zählte, zu einem soliden, symbolisch¬
orthodoxen lutherischen Christen nach dem Herzen Kliefoths emporzuschwingen.
In öffentlichen Vorträgen vor einem gemischten Publikum, die er aber nicht
frei zu halten weiß, sondern mit monotoner Stimme abliest, liebt er es, die
Ohren der Damen mit schlüpfrigen Anspielungen und Bildern und die der
Herren mit höhnenden Reden auf die „Demokraten" zu kitzeln. In seiner
letzten Rectoratsrede bekämpfte er die darwynsche Theorie von der Entstehung
der Arten durch die Bemerkung, daß dann wohl gar einmal im Verlauf der
Jahrtausende der „Brüllaffe" sich zum „Demokraten" gestalten könnte. Es
gibt dies zugleich eine Probe von der Stufe, auf welcher der Witz dieses
Mannes steht; dennoch richtet er bei solchen Stellen einen schelmischen und den
Beifall Herausfordenden Blick auf sein vorherrschend reactionär gesinntes Publikum,
welches meistens den Tact besitzt, solchen Scherzen das gewünschte Ge¬
lächter zu versagen. Früher soll er sich auch mit allerlei Mystik getragen
und z. B. in einer Rectoratsrede im Jahre 184S die Beziehung der Fünfzahl
im Pflanzenorganismus auf die Wundenmale Jesu zur Geltung zu bringen
versucht haben. Royer ist Mitglied des Hciuptvereins für innere Mission und
Ehrenmitglied des rostvcker Handwerkervereins, welcher den Zweck verfolgt,
das Zunftwesen gegen das Vordringen der Gewerbefreiheit und der Maschinen¬
industrie zu schützen.

Seine reactioncire politische Richtung hinderte ihn übrigens nicht, im
März des Jahres 1848 den Antrag der Universität auf Reform der Landesver¬
fassung und Preßfreiheit zu unterzeichnen und sich auch im weitern Verlause


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[0529] schon seit länger als 30 Jahren ein anderer Privatdocent an, der Hofmedicus Schröder, Director der städtischen Irren- Heil- und Pflegeanstalt, welcher hier deshalb genannt werden muß, weil er der alleinige Docent ist, welcher das Fach der Geisteskrankheiten vertritt oder vielmehr durch Ankündigung von Vorlesungen alle halbe Jahre zu vertreten sich bereit erklärt. Wegen der nahen Beziehungen der Naturwissenschaften zu der Medicin mögen hier gleich die Lehrer der ersteren angereiht werden. Professor der „Naturgeschichte", wie der amtliche Ausdruck lautet, oder vielmehr der Zoologie und der Botanik ist seit ungefähr 30 Jahren Johann Royer, Enkel eines vor hundert Jahren aus dem callenbergischen Institut zu Halle in Mecklenburg eingewanderten Judenmissionärs. In seinem Hauptfache, der Botanik, genießt er eines ehrenvollen Rufes. Er hat „zur Flora Mecklen¬ burgs" ein in zwei Abtheilungen erschienenes Rectoratsprogramm veröffentlicht. Als Lehrer und Leiter botanischer Excursionen wird er von den Studenten ge¬ schätzt. In kirchlicher und politischer Hinsicht steht er auf Seiten einer extremen Reaction, scheint indessen, was ersteres betrifft, doch noch immer Mühe zu haben, sich von den Traditionen der schweizerischen Frommen, die er als Pro¬ fessor in Basel zu seinen Parteigenossen zählte, zu einem soliden, symbolisch¬ orthodoxen lutherischen Christen nach dem Herzen Kliefoths emporzuschwingen. In öffentlichen Vorträgen vor einem gemischten Publikum, die er aber nicht frei zu halten weiß, sondern mit monotoner Stimme abliest, liebt er es, die Ohren der Damen mit schlüpfrigen Anspielungen und Bildern und die der Herren mit höhnenden Reden auf die „Demokraten" zu kitzeln. In seiner letzten Rectoratsrede bekämpfte er die darwynsche Theorie von der Entstehung der Arten durch die Bemerkung, daß dann wohl gar einmal im Verlauf der Jahrtausende der „Brüllaffe" sich zum „Demokraten" gestalten könnte. Es gibt dies zugleich eine Probe von der Stufe, auf welcher der Witz dieses Mannes steht; dennoch richtet er bei solchen Stellen einen schelmischen und den Beifall Herausfordenden Blick auf sein vorherrschend reactionär gesinntes Publikum, welches meistens den Tact besitzt, solchen Scherzen das gewünschte Ge¬ lächter zu versagen. Früher soll er sich auch mit allerlei Mystik getragen und z. B. in einer Rectoratsrede im Jahre 184S die Beziehung der Fünfzahl im Pflanzenorganismus auf die Wundenmale Jesu zur Geltung zu bringen versucht haben. Royer ist Mitglied des Hciuptvereins für innere Mission und Ehrenmitglied des rostvcker Handwerkervereins, welcher den Zweck verfolgt, das Zunftwesen gegen das Vordringen der Gewerbefreiheit und der Maschinen¬ industrie zu schützen. Seine reactioncire politische Richtung hinderte ihn übrigens nicht, im März des Jahres 1848 den Antrag der Universität auf Reform der Landesver¬ fassung und Preßfreiheit zu unterzeichnen und sich auch im weitern Verlause 63*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/529>, abgerufen am 23.07.2024.