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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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als Kunst vor allem die gesetzmäßige Folgerichtigkeit der Con-
struction auszusprechen habe. Die Kunst ist so wenig wie das Leben
mathematisch. In beiden wirkt das Gesetz wie die innere Thätigkeit des Or¬
ganismus unter der Oberfläche des Fleisches; nichts ist zufällig in dem har¬
monischen Spiel der Formen, aber in ihrer freien Bewegung der Zwang der
Nothwendigkeit aufgehoben. Und so klingt auch in der wahren Baukunst das
Gesetz überall durch; aber die Gestalt des Baues ist nicht das nüchterne Er¬
gebniß geometrischer Combinationen, sondern das wie in einem Guß geschaffene
Gebilde einer die Nothdurft verhüllenden Phantasie. Wie klar und bestimmt
spricht sich in dem griechischen Tempel das Gesetz des Aufbaues, ja selbst die
materielle Festigkeit der Construction aus; und doch wie aus innerer Kraft, in
freier Lebensäußerung scheint er aufgerichtet, daß das Auge nur diese in sich
vollendete Form steht, ohne weder auf das Gesetz noch auf die Dauer der
Structur zu achten. In ein Festgewand hat sich das stoffliche Gefüge gekleidet,
das ihm aber nicht wie eine bloße Hülle umhängt, sondern sich darum legt,
wie die unzerreißbare Form eines organischen Gewächses, in welcher sich das
dunkle gebundene Leben des Kerns wie spielend entfaltet. Selbst in die gothische
Architektur drang das künstlerische Bedürfniß ein, die mechanische Thätigkeit des
Steins durch die Bekleidung zu verdecken; sie suchte im Inneren ihren Glie¬
dern durch einen farbigen Ueberzug den Schein natürlicher Bewegung, ihrer
Dienstleistung den Ausdruck freier Lebendigkeit zu geben und verbarg z. B. an
den Gurtbögen und Gewölbrippen hinter dieser Hülle die aus den Wölbsteincn
bestehende Structur. Ja, die Blüthe des Stils verlangte die vollständige
Färbung des Jnnenbaues, wie wenn sie müde wäre der todten Gesetzmäßig¬
keit und nach der warmen Sinnlichkeit des Lebens verlangte; auch erreicht sie
in der That da, wo sie dieselbe durchführt, wie in der Sainte Chapelle zu Pa¬
ris noch am ehesten eine volle künstlerische Wirkung. Aber nur in einen um
so schrofferen Gegensatz tritt damit der gerippartige Charakter des Aeußeren.
in dem sich ja das Gerüst mit tollem Uebermuth tausendfach wiederholt. So
offen bekennt der Stil die materielle Structur als seine eigentliche Seele, daß
er selbst untergeordnete technische Hilfsmittel derselben, die Maneranker und
Beschläge, durch ein verzierendes Spiel hervorhebt. Und so ist im Grunde
durchweg die Form nichts als der dienende Ausdruck des der widerstrebenden
Natur des Stoffs abgezwungenen Sieges.

Und dieselbe Beschränktheit und Erstarrung, an welcher die architektonische
Kunstform leidet, haben unter der Herrschaft des Stils die bildenden Künste
überhaupt erfahren. Seine Bauten haben keinen Raum für eine freie Entfal¬
tung der Plastik und Malerei. Sie verweisen jene in die Hohlkehlen der Por¬
tale und in die Fialen, wo sie mit der schwachbewegten Einzelfigur sich begnü¬
gen muß, beschränken diese auf die vergitterten Fenster und die Flügel des Altar-


als Kunst vor allem die gesetzmäßige Folgerichtigkeit der Con-
struction auszusprechen habe. Die Kunst ist so wenig wie das Leben
mathematisch. In beiden wirkt das Gesetz wie die innere Thätigkeit des Or¬
ganismus unter der Oberfläche des Fleisches; nichts ist zufällig in dem har¬
monischen Spiel der Formen, aber in ihrer freien Bewegung der Zwang der
Nothwendigkeit aufgehoben. Und so klingt auch in der wahren Baukunst das
Gesetz überall durch; aber die Gestalt des Baues ist nicht das nüchterne Er¬
gebniß geometrischer Combinationen, sondern das wie in einem Guß geschaffene
Gebilde einer die Nothdurft verhüllenden Phantasie. Wie klar und bestimmt
spricht sich in dem griechischen Tempel das Gesetz des Aufbaues, ja selbst die
materielle Festigkeit der Construction aus; und doch wie aus innerer Kraft, in
freier Lebensäußerung scheint er aufgerichtet, daß das Auge nur diese in sich
vollendete Form steht, ohne weder auf das Gesetz noch auf die Dauer der
Structur zu achten. In ein Festgewand hat sich das stoffliche Gefüge gekleidet,
das ihm aber nicht wie eine bloße Hülle umhängt, sondern sich darum legt,
wie die unzerreißbare Form eines organischen Gewächses, in welcher sich das
dunkle gebundene Leben des Kerns wie spielend entfaltet. Selbst in die gothische
Architektur drang das künstlerische Bedürfniß ein, die mechanische Thätigkeit des
Steins durch die Bekleidung zu verdecken; sie suchte im Inneren ihren Glie¬
dern durch einen farbigen Ueberzug den Schein natürlicher Bewegung, ihrer
Dienstleistung den Ausdruck freier Lebendigkeit zu geben und verbarg z. B. an
den Gurtbögen und Gewölbrippen hinter dieser Hülle die aus den Wölbsteincn
bestehende Structur. Ja, die Blüthe des Stils verlangte die vollständige
Färbung des Jnnenbaues, wie wenn sie müde wäre der todten Gesetzmäßig¬
keit und nach der warmen Sinnlichkeit des Lebens verlangte; auch erreicht sie
in der That da, wo sie dieselbe durchführt, wie in der Sainte Chapelle zu Pa¬
ris noch am ehesten eine volle künstlerische Wirkung. Aber nur in einen um
so schrofferen Gegensatz tritt damit der gerippartige Charakter des Aeußeren.
in dem sich ja das Gerüst mit tollem Uebermuth tausendfach wiederholt. So
offen bekennt der Stil die materielle Structur als seine eigentliche Seele, daß
er selbst untergeordnete technische Hilfsmittel derselben, die Maneranker und
Beschläge, durch ein verzierendes Spiel hervorhebt. Und so ist im Grunde
durchweg die Form nichts als der dienende Ausdruck des der widerstrebenden
Natur des Stoffs abgezwungenen Sieges.

Und dieselbe Beschränktheit und Erstarrung, an welcher die architektonische
Kunstform leidet, haben unter der Herrschaft des Stils die bildenden Künste
überhaupt erfahren. Seine Bauten haben keinen Raum für eine freie Entfal¬
tung der Plastik und Malerei. Sie verweisen jene in die Hohlkehlen der Por¬
tale und in die Fialen, wo sie mit der schwachbewegten Einzelfigur sich begnü¬
gen muß, beschränken diese auf die vergitterten Fenster und die Flügel des Altar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/520>, abgerufen am 01.07.2024.