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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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diesseits des Rheins und zum Theil noch mit romanischen Elementen vermischt,
mit dem Polygonen Chorplan der Kathedrale von Soissons zeigt, die auffal¬
lende Aehnlichkeit der Stiftskirche von Se. Georg zu Limburg an der Lahn mit
der Kathedrale von Noyon in fast allen Theilen, ferner die Durchführung des
Systems an dem ersten durchaus gothischen Bau, der Liebfrauenkirche in Trier,
nach dem Muster des Chors von Se. Aved in Braine bei Soissons, endlich die
Anordnung des kölner Domchors nach dem Vorbilde der Kathedrale von Amiens:
das alles sind unzweifelhafte Zeichen, daß die deutschen Baumeister an franzö¬
sischen Kirchen ihre Studien gemacht hatten und nicht blos die einzelnen For¬
men, sondern sogar die Anlage der Pläne und die Raumeintheilung aus Frank¬
reich holten. Es ist sicher, daß sie ebenso, wie nun etwa die Maler nach
Italien, nach dem Nachbarlande wanderten, um die französische Bauweise gründ¬
lich kennen zu lernen und sich dort die Ausbildung zu erwerben, die sie befähi¬
gen sollte, die Kirchen in der Heimath in dem neuen Stile zu errichten. So
erzählt ein Dechant des Stifts Wimpfen vor 1300, wie sein Vorgänger einen
Baumeister, der erst kürzlich aus Frankreich gekommen, berufen habe, um die
Kirche "in französischer Arbeit" auszuführen. Eine Stelle, die sowohl
das beweist, daß man sich des französischen Ursprungs der Bauart vollkommen
bewußt war, als das Andere, daß vorab die Architekten gesucht wurden, welche
eben erst ihre Studien in Frankreich beendet und somit die neuesten Fortschritte
der dortigen Baukunst inne hatten. Andrerseits hatte sich der Ruhm der fran¬
zösischen Baumeister so verbreitet, daß man sie weithin aus der Fremde kom¬
men ließ, wo etwa einheimische französisch geschulte Meister nicht zu haben
waren (z. B. nach Prag).

Wie weit, so lange die neue Kunstweise in der Entwickelung begriffen war,
das deutsche Bauwesen selbständig sein konnte, ergiebt sich aus diesen Daten.
Nicht mehr, als es die allmälige Loslösung von der einheimischen romanischen
Weise und andrerseits die naturgemäße Veränderung mit sich brachte, welche
jede Kunstform erleidet, sobald sie den Anforderungen bestimmter Bedürfnisse
sich anzupassen hat. Daher kann von einer eigentlich deutsche "Ent¬
wickelung der Gothik nicht die Rede sein. Sie war ein ausländisches
Erzeugniß, auf den deutschen Boden verpflanzt und schon vorher von so ent¬
schieden ausgeprägter Art, daß sie auch in der fremden Erde, der anderen Luft
ihrer ganzen Gestalt nach dieselbe blieb.

Wie sollte auch der Deutsche dazu kommen, eine Bauweise selbständig
fortzuführen, auf die ihn kein eigenes inneres Bedürfniß geleitet hatte?
Schnaase selbst, der sich bemüht, eine selbständige Ausbildung der Gothik in
Deutschland wenigstens von einem gewissen Punkte an nachzuweisen, aber sich
deshalb der unbefangenen Forschung nicht begiebt, hat zugeben müssen, daß
ursprünglich der neue Stil dem deutschen Naturell und den deutschen Verhält-


diesseits des Rheins und zum Theil noch mit romanischen Elementen vermischt,
mit dem Polygonen Chorplan der Kathedrale von Soissons zeigt, die auffal¬
lende Aehnlichkeit der Stiftskirche von Se. Georg zu Limburg an der Lahn mit
der Kathedrale von Noyon in fast allen Theilen, ferner die Durchführung des
Systems an dem ersten durchaus gothischen Bau, der Liebfrauenkirche in Trier,
nach dem Muster des Chors von Se. Aved in Braine bei Soissons, endlich die
Anordnung des kölner Domchors nach dem Vorbilde der Kathedrale von Amiens:
das alles sind unzweifelhafte Zeichen, daß die deutschen Baumeister an franzö¬
sischen Kirchen ihre Studien gemacht hatten und nicht blos die einzelnen For¬
men, sondern sogar die Anlage der Pläne und die Raumeintheilung aus Frank¬
reich holten. Es ist sicher, daß sie ebenso, wie nun etwa die Maler nach
Italien, nach dem Nachbarlande wanderten, um die französische Bauweise gründ¬
lich kennen zu lernen und sich dort die Ausbildung zu erwerben, die sie befähi¬
gen sollte, die Kirchen in der Heimath in dem neuen Stile zu errichten. So
erzählt ein Dechant des Stifts Wimpfen vor 1300, wie sein Vorgänger einen
Baumeister, der erst kürzlich aus Frankreich gekommen, berufen habe, um die
Kirche „in französischer Arbeit" auszuführen. Eine Stelle, die sowohl
das beweist, daß man sich des französischen Ursprungs der Bauart vollkommen
bewußt war, als das Andere, daß vorab die Architekten gesucht wurden, welche
eben erst ihre Studien in Frankreich beendet und somit die neuesten Fortschritte
der dortigen Baukunst inne hatten. Andrerseits hatte sich der Ruhm der fran¬
zösischen Baumeister so verbreitet, daß man sie weithin aus der Fremde kom¬
men ließ, wo etwa einheimische französisch geschulte Meister nicht zu haben
waren (z. B. nach Prag).

Wie weit, so lange die neue Kunstweise in der Entwickelung begriffen war,
das deutsche Bauwesen selbständig sein konnte, ergiebt sich aus diesen Daten.
Nicht mehr, als es die allmälige Loslösung von der einheimischen romanischen
Weise und andrerseits die naturgemäße Veränderung mit sich brachte, welche
jede Kunstform erleidet, sobald sie den Anforderungen bestimmter Bedürfnisse
sich anzupassen hat. Daher kann von einer eigentlich deutsche »Ent¬
wickelung der Gothik nicht die Rede sein. Sie war ein ausländisches
Erzeugniß, auf den deutschen Boden verpflanzt und schon vorher von so ent¬
schieden ausgeprägter Art, daß sie auch in der fremden Erde, der anderen Luft
ihrer ganzen Gestalt nach dieselbe blieb.

Wie sollte auch der Deutsche dazu kommen, eine Bauweise selbständig
fortzuführen, auf die ihn kein eigenes inneres Bedürfniß geleitet hatte?
Schnaase selbst, der sich bemüht, eine selbständige Ausbildung der Gothik in
Deutschland wenigstens von einem gewissen Punkte an nachzuweisen, aber sich
deshalb der unbefangenen Forschung nicht begiebt, hat zugeben müssen, daß
ursprünglich der neue Stil dem deutschen Naturell und den deutschen Verhält-


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[0492] diesseits des Rheins und zum Theil noch mit romanischen Elementen vermischt, mit dem Polygonen Chorplan der Kathedrale von Soissons zeigt, die auffal¬ lende Aehnlichkeit der Stiftskirche von Se. Georg zu Limburg an der Lahn mit der Kathedrale von Noyon in fast allen Theilen, ferner die Durchführung des Systems an dem ersten durchaus gothischen Bau, der Liebfrauenkirche in Trier, nach dem Muster des Chors von Se. Aved in Braine bei Soissons, endlich die Anordnung des kölner Domchors nach dem Vorbilde der Kathedrale von Amiens: das alles sind unzweifelhafte Zeichen, daß die deutschen Baumeister an franzö¬ sischen Kirchen ihre Studien gemacht hatten und nicht blos die einzelnen For¬ men, sondern sogar die Anlage der Pläne und die Raumeintheilung aus Frank¬ reich holten. Es ist sicher, daß sie ebenso, wie nun etwa die Maler nach Italien, nach dem Nachbarlande wanderten, um die französische Bauweise gründ¬ lich kennen zu lernen und sich dort die Ausbildung zu erwerben, die sie befähi¬ gen sollte, die Kirchen in der Heimath in dem neuen Stile zu errichten. So erzählt ein Dechant des Stifts Wimpfen vor 1300, wie sein Vorgänger einen Baumeister, der erst kürzlich aus Frankreich gekommen, berufen habe, um die Kirche „in französischer Arbeit" auszuführen. Eine Stelle, die sowohl das beweist, daß man sich des französischen Ursprungs der Bauart vollkommen bewußt war, als das Andere, daß vorab die Architekten gesucht wurden, welche eben erst ihre Studien in Frankreich beendet und somit die neuesten Fortschritte der dortigen Baukunst inne hatten. Andrerseits hatte sich der Ruhm der fran¬ zösischen Baumeister so verbreitet, daß man sie weithin aus der Fremde kom¬ men ließ, wo etwa einheimische französisch geschulte Meister nicht zu haben waren (z. B. nach Prag). Wie weit, so lange die neue Kunstweise in der Entwickelung begriffen war, das deutsche Bauwesen selbständig sein konnte, ergiebt sich aus diesen Daten. Nicht mehr, als es die allmälige Loslösung von der einheimischen romanischen Weise und andrerseits die naturgemäße Veränderung mit sich brachte, welche jede Kunstform erleidet, sobald sie den Anforderungen bestimmter Bedürfnisse sich anzupassen hat. Daher kann von einer eigentlich deutsche »Ent¬ wickelung der Gothik nicht die Rede sein. Sie war ein ausländisches Erzeugniß, auf den deutschen Boden verpflanzt und schon vorher von so ent¬ schieden ausgeprägter Art, daß sie auch in der fremden Erde, der anderen Luft ihrer ganzen Gestalt nach dieselbe blieb. Wie sollte auch der Deutsche dazu kommen, eine Bauweise selbständig fortzuführen, auf die ihn kein eigenes inneres Bedürfniß geleitet hatte? Schnaase selbst, der sich bemüht, eine selbständige Ausbildung der Gothik in Deutschland wenigstens von einem gewissen Punkte an nachzuweisen, aber sich deshalb der unbefangenen Forschung nicht begiebt, hat zugeben müssen, daß ursprünglich der neue Stil dem deutschen Naturell und den deutschen Verhält-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/492>, abgerufen am 23.07.2024.