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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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gäbe der Werke dem Ende zu und in den vier Bänden des Briefwechsels ist
dem künftigen Biographen eine Fülle von Material dargeboten. Für das Ver¬
ständniß der theologischen Eigenthümlichkeit Schleiermachers dürfte neben der
Glaubenslehre keines seiner Werke so instructiv sein als eben diese Vorlesungen
über das Leben Jesu: sie führen recht in die geheimste Werkstätte seines Geistes
ein, und das, was sie im Anfang geradezu abschreckend macht, ihre Formlosig¬
keit, kommt ihnen in dieser Beziehung gewissermaßen zu statten. Denn die Form¬
losigkeit rührt eben daher, daß die Vorträge, wie Schleiermacher sie auf dem Ka¬
theder frei producirte, mit möglichster Genauigkeit wiedergegeben sind. Es war
nicht seine Art, mit fertigen Resultaten vor die Zuhörer zu treten, er stellte
vielmehr wie zu gemeinschaftlicher Erörterung die Probleme hin und begann
nun mit soldatischer Dialektik sie von allen Seiten anzufassen, zu verwickeln,
zu entwickeln. Hatte er auch für sich die Grundgedanken längst durchgearbeitet,
so überließ er sich doch bei ihrer Wiedergabe auf dem Katheder der lebendigen
Improvisation und ließ so die Schüler an dem Processe theilnehmen, welchen
die Gedankenreihen in seinem Kopfe durchliefen. Eine solche Vortragsweise
wird ihre Vorzüge und ihre Mängel haben. Im akademischen Hörsaal wird
man vor allem jener sich erfreuen, die letzteren werden besonders dann hervor¬
treten, wenn das gesprochene Wort, allen Zufälligkeiten entnommen und nicht
mehr durch die Persönlichkeit des Redenden belebt, schriftlich fixirt wird. Es
kann nicht auffallen, wenn bei der sprudelnden Lebendigkeit, wie sie gerade
Schleiermacher im hohen Grad eigen war, der Gedankengang zuweilen unsicher
wird, der Faden abreißt, die Discusston oft mehr den Charakter der Verwick¬
lung als der Entwicklung an sich trägt. Allein im vorliegenden Fall häufen
sich nun doch jene Mängel in besonders bedenklichem Maß. und eben dies ist
das Charakteristische. Es ist kein Zufall, daß gerade hier Schleiermacher so
oft die Herrschaft über den Stoff verliert, festen Standort vermissen läßt und
von seinen eigenen Problemen wie im Kreise herumgetrieben erscheint. Wenn
der Vortrag so auffallend unsicher und selbst verworren ist, die Resultate so
sehr verschwinden hinter einer Dialektik, welche unermüdlich ist. Gründe und
Gegengründe zu häufen, von Einem zum Andern abzuspringen, bevor jenes
erledigt ist; von dieser und von jener Seite einen Gegenstand anzufassen, ohne
je seiner habhaft zu werden, so ist der Eindruck unabweisbar, daß hier alle
Kunst der Dialektik an einer unmöglichen Aufgabe sich abgearbeitet hat; und
so ist es in der That.

Welches war diese Aufgabe? Schleiermacher scheint sie im Anfang ganz
als eine historisch-kritische zu fassen. Seine Absicht ist, wie> er selbst sagt, eine
Lebensbeschreibung Jesu zu versuchen, und dabei betont er ausdrücklich, man
dürfe bei dieser Aufgabe nicht im Voraus vom Glauben an Christus ausgehen,
denn sonst könne sie nicht auf rein geschichtliche Weise gelöst werden, und die


gäbe der Werke dem Ende zu und in den vier Bänden des Briefwechsels ist
dem künftigen Biographen eine Fülle von Material dargeboten. Für das Ver¬
ständniß der theologischen Eigenthümlichkeit Schleiermachers dürfte neben der
Glaubenslehre keines seiner Werke so instructiv sein als eben diese Vorlesungen
über das Leben Jesu: sie führen recht in die geheimste Werkstätte seines Geistes
ein, und das, was sie im Anfang geradezu abschreckend macht, ihre Formlosig¬
keit, kommt ihnen in dieser Beziehung gewissermaßen zu statten. Denn die Form¬
losigkeit rührt eben daher, daß die Vorträge, wie Schleiermacher sie auf dem Ka¬
theder frei producirte, mit möglichster Genauigkeit wiedergegeben sind. Es war
nicht seine Art, mit fertigen Resultaten vor die Zuhörer zu treten, er stellte
vielmehr wie zu gemeinschaftlicher Erörterung die Probleme hin und begann
nun mit soldatischer Dialektik sie von allen Seiten anzufassen, zu verwickeln,
zu entwickeln. Hatte er auch für sich die Grundgedanken längst durchgearbeitet,
so überließ er sich doch bei ihrer Wiedergabe auf dem Katheder der lebendigen
Improvisation und ließ so die Schüler an dem Processe theilnehmen, welchen
die Gedankenreihen in seinem Kopfe durchliefen. Eine solche Vortragsweise
wird ihre Vorzüge und ihre Mängel haben. Im akademischen Hörsaal wird
man vor allem jener sich erfreuen, die letzteren werden besonders dann hervor¬
treten, wenn das gesprochene Wort, allen Zufälligkeiten entnommen und nicht
mehr durch die Persönlichkeit des Redenden belebt, schriftlich fixirt wird. Es
kann nicht auffallen, wenn bei der sprudelnden Lebendigkeit, wie sie gerade
Schleiermacher im hohen Grad eigen war, der Gedankengang zuweilen unsicher
wird, der Faden abreißt, die Discusston oft mehr den Charakter der Verwick¬
lung als der Entwicklung an sich trägt. Allein im vorliegenden Fall häufen
sich nun doch jene Mängel in besonders bedenklichem Maß. und eben dies ist
das Charakteristische. Es ist kein Zufall, daß gerade hier Schleiermacher so
oft die Herrschaft über den Stoff verliert, festen Standort vermissen läßt und
von seinen eigenen Problemen wie im Kreise herumgetrieben erscheint. Wenn
der Vortrag so auffallend unsicher und selbst verworren ist, die Resultate so
sehr verschwinden hinter einer Dialektik, welche unermüdlich ist. Gründe und
Gegengründe zu häufen, von Einem zum Andern abzuspringen, bevor jenes
erledigt ist; von dieser und von jener Seite einen Gegenstand anzufassen, ohne
je seiner habhaft zu werden, so ist der Eindruck unabweisbar, daß hier alle
Kunst der Dialektik an einer unmöglichen Aufgabe sich abgearbeitet hat; und
so ist es in der That.

Welches war diese Aufgabe? Schleiermacher scheint sie im Anfang ganz
als eine historisch-kritische zu fassen. Seine Absicht ist, wie> er selbst sagt, eine
Lebensbeschreibung Jesu zu versuchen, und dabei betont er ausdrücklich, man
dürfe bei dieser Aufgabe nicht im Voraus vom Glauben an Christus ausgehen,
denn sonst könne sie nicht auf rein geschichtliche Weise gelöst werden, und die


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[0472] gäbe der Werke dem Ende zu und in den vier Bänden des Briefwechsels ist dem künftigen Biographen eine Fülle von Material dargeboten. Für das Ver¬ ständniß der theologischen Eigenthümlichkeit Schleiermachers dürfte neben der Glaubenslehre keines seiner Werke so instructiv sein als eben diese Vorlesungen über das Leben Jesu: sie führen recht in die geheimste Werkstätte seines Geistes ein, und das, was sie im Anfang geradezu abschreckend macht, ihre Formlosig¬ keit, kommt ihnen in dieser Beziehung gewissermaßen zu statten. Denn die Form¬ losigkeit rührt eben daher, daß die Vorträge, wie Schleiermacher sie auf dem Ka¬ theder frei producirte, mit möglichster Genauigkeit wiedergegeben sind. Es war nicht seine Art, mit fertigen Resultaten vor die Zuhörer zu treten, er stellte vielmehr wie zu gemeinschaftlicher Erörterung die Probleme hin und begann nun mit soldatischer Dialektik sie von allen Seiten anzufassen, zu verwickeln, zu entwickeln. Hatte er auch für sich die Grundgedanken längst durchgearbeitet, so überließ er sich doch bei ihrer Wiedergabe auf dem Katheder der lebendigen Improvisation und ließ so die Schüler an dem Processe theilnehmen, welchen die Gedankenreihen in seinem Kopfe durchliefen. Eine solche Vortragsweise wird ihre Vorzüge und ihre Mängel haben. Im akademischen Hörsaal wird man vor allem jener sich erfreuen, die letzteren werden besonders dann hervor¬ treten, wenn das gesprochene Wort, allen Zufälligkeiten entnommen und nicht mehr durch die Persönlichkeit des Redenden belebt, schriftlich fixirt wird. Es kann nicht auffallen, wenn bei der sprudelnden Lebendigkeit, wie sie gerade Schleiermacher im hohen Grad eigen war, der Gedankengang zuweilen unsicher wird, der Faden abreißt, die Discusston oft mehr den Charakter der Verwick¬ lung als der Entwicklung an sich trägt. Allein im vorliegenden Fall häufen sich nun doch jene Mängel in besonders bedenklichem Maß. und eben dies ist das Charakteristische. Es ist kein Zufall, daß gerade hier Schleiermacher so oft die Herrschaft über den Stoff verliert, festen Standort vermissen läßt und von seinen eigenen Problemen wie im Kreise herumgetrieben erscheint. Wenn der Vortrag so auffallend unsicher und selbst verworren ist, die Resultate so sehr verschwinden hinter einer Dialektik, welche unermüdlich ist. Gründe und Gegengründe zu häufen, von Einem zum Andern abzuspringen, bevor jenes erledigt ist; von dieser und von jener Seite einen Gegenstand anzufassen, ohne je seiner habhaft zu werden, so ist der Eindruck unabweisbar, daß hier alle Kunst der Dialektik an einer unmöglichen Aufgabe sich abgearbeitet hat; und so ist es in der That. Welches war diese Aufgabe? Schleiermacher scheint sie im Anfang ganz als eine historisch-kritische zu fassen. Seine Absicht ist, wie> er selbst sagt, eine Lebensbeschreibung Jesu zu versuchen, und dabei betont er ausdrücklich, man dürfe bei dieser Aufgabe nicht im Voraus vom Glauben an Christus ausgehen, denn sonst könne sie nicht auf rein geschichtliche Weise gelöst werden, und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/472>, abgerufen am 23.07.2024.