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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Kirchenglaubens retten will und doch durchdrungen von überlegenem zukunft¬
erfüllten Geist auf jedem Punkt darüber hinausgeführt wird, die den Bedürfnissen
des modernen Geistes Raum schaffen will und doch jeden Augenblick^gehemmt durch
den Dämon einer geheiligten Autorität wieder zurücksinke, eine Dialektik, die
zwar ein ideales versöhnendes Ziel im Auge hat, aber inneren Widerspruchs
voll den Weg dazu nur durch künstliche und -- man kann es nicht läugnen --
sophistische Mittel finden kann, um am Ende doch des Zieles zu verfehlen. Wie
oft ist Schleiermacher nahe daran, die mythische Auffassung der überlieferten
Berichte anzuerkennen, aber indem er den Schritt thun will, zupft ihn jener
böse Dämon am Arme und spiegelt ihm ein Auskunftsmittel vor, bei welchem
er sich, wenn auch ungern, beruhigt. Wie frei ist im Grund seine Stellung zur
Schrift, und wie wird sie doch wieder eingeengt durch Machtsprüche des sub-
jectiven Bedürfnisses, durch Lieblingsmeinungen, in welchen.sich jene Gebunden¬
heit verräth! Wie klar fühlt er die Widersprüche der evangelischen Bericht¬
erstatter, welche seine Nachfolger wieder ängstlich zuzudecken beflissen sind! Aber
wo er sich zur Entscheidung für oder wider genöthigt sieht, sind es wiederum
nicht objective Gründe, welche ihn bestimmen, sondern vorgefaßte Meinungen,
die ihren letzten Grund darin haben, daß er nun einmal entschlossen ist, den
Hauptwiderspruch nicht anzuerkennen und, gehe es wie es wolle, zu vergleichen,
den Widerspruch zwischen dem Kirchenglauben und dem modernen Denken.

Wie ernst fühlt er das Bedürfniß, das Leben Jesu als ein echt mensch¬
liches darzustellen, aber er will zugleich nichts von dem göttlichen Erlöser der
Kirche wissen. Er schafft sich für sein persönliches Bedürfniß ein Idealbild vom
Erlöser, das aber weder den Anforderungen der Autorität noch den Denkgesetzen
des modernen Geistes entspricht, und indem er dieses Idealbild, das nur für
den mystischen Glauben Realität hat, auf kritischem Wege zu gewinnen und
zu beweisen sucht, zerstört er es selbst mit unbarmherzigen Händen. So ist
denn dieses Leben Jesu der getreue Ausdruck der Periode, welche dem Strauß-
feder Werk unmittelbar vorausging, einer Periode, die das Neue wollte
und wieder nicht wollte, die an das Alte sich anklammerte und nicht wußte,
durch welche Kluft sie bereits von ihm getrennt war. Es hat ein Janusgesicht,
wie die ganze schleiermachersche Theologie: der sich auf den Scheideweg gestellt
sah. war kein Herakles.

Ein Leben Schleiermachers, eine umfassende Charakteristik dieses reichen
Geistes ist bekanntlich noch zu schreiben. Mit Recht haben die Schüler nicht
Zu frühe an eine Aufgabe sich gewagt, welche eine ungewöhnliche Vereinigung
von Fähigkeiten, umfassende Kenntniß der zeitgenössischen Bestrebungen^ Kunst
und Wissenschaft, Kirche und Staat,, liebevolles Eindringen in eine der viel¬
maligsten und eigenthümlichsten Persönlichkeiten und dabei ein freies überschauen¬
des Urtheil und nüchterne Kritik erfordert. Inzwischen rückt die Gcsammtaus-


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Kirchenglaubens retten will und doch durchdrungen von überlegenem zukunft¬
erfüllten Geist auf jedem Punkt darüber hinausgeführt wird, die den Bedürfnissen
des modernen Geistes Raum schaffen will und doch jeden Augenblick^gehemmt durch
den Dämon einer geheiligten Autorität wieder zurücksinke, eine Dialektik, die
zwar ein ideales versöhnendes Ziel im Auge hat, aber inneren Widerspruchs
voll den Weg dazu nur durch künstliche und — man kann es nicht läugnen —
sophistische Mittel finden kann, um am Ende doch des Zieles zu verfehlen. Wie
oft ist Schleiermacher nahe daran, die mythische Auffassung der überlieferten
Berichte anzuerkennen, aber indem er den Schritt thun will, zupft ihn jener
böse Dämon am Arme und spiegelt ihm ein Auskunftsmittel vor, bei welchem
er sich, wenn auch ungern, beruhigt. Wie frei ist im Grund seine Stellung zur
Schrift, und wie wird sie doch wieder eingeengt durch Machtsprüche des sub-
jectiven Bedürfnisses, durch Lieblingsmeinungen, in welchen.sich jene Gebunden¬
heit verräth! Wie klar fühlt er die Widersprüche der evangelischen Bericht¬
erstatter, welche seine Nachfolger wieder ängstlich zuzudecken beflissen sind! Aber
wo er sich zur Entscheidung für oder wider genöthigt sieht, sind es wiederum
nicht objective Gründe, welche ihn bestimmen, sondern vorgefaßte Meinungen,
die ihren letzten Grund darin haben, daß er nun einmal entschlossen ist, den
Hauptwiderspruch nicht anzuerkennen und, gehe es wie es wolle, zu vergleichen,
den Widerspruch zwischen dem Kirchenglauben und dem modernen Denken.

Wie ernst fühlt er das Bedürfniß, das Leben Jesu als ein echt mensch¬
liches darzustellen, aber er will zugleich nichts von dem göttlichen Erlöser der
Kirche wissen. Er schafft sich für sein persönliches Bedürfniß ein Idealbild vom
Erlöser, das aber weder den Anforderungen der Autorität noch den Denkgesetzen
des modernen Geistes entspricht, und indem er dieses Idealbild, das nur für
den mystischen Glauben Realität hat, auf kritischem Wege zu gewinnen und
zu beweisen sucht, zerstört er es selbst mit unbarmherzigen Händen. So ist
denn dieses Leben Jesu der getreue Ausdruck der Periode, welche dem Strauß-
feder Werk unmittelbar vorausging, einer Periode, die das Neue wollte
und wieder nicht wollte, die an das Alte sich anklammerte und nicht wußte,
durch welche Kluft sie bereits von ihm getrennt war. Es hat ein Janusgesicht,
wie die ganze schleiermachersche Theologie: der sich auf den Scheideweg gestellt
sah. war kein Herakles.

Ein Leben Schleiermachers, eine umfassende Charakteristik dieses reichen
Geistes ist bekanntlich noch zu schreiben. Mit Recht haben die Schüler nicht
Zu frühe an eine Aufgabe sich gewagt, welche eine ungewöhnliche Vereinigung
von Fähigkeiten, umfassende Kenntniß der zeitgenössischen Bestrebungen^ Kunst
und Wissenschaft, Kirche und Staat,, liebevolles Eindringen in eine der viel¬
maligsten und eigenthümlichsten Persönlichkeiten und dabei ein freies überschauen¬
des Urtheil und nüchterne Kritik erfordert. Inzwischen rückt die Gcsammtaus-


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[0471] Kirchenglaubens retten will und doch durchdrungen von überlegenem zukunft¬ erfüllten Geist auf jedem Punkt darüber hinausgeführt wird, die den Bedürfnissen des modernen Geistes Raum schaffen will und doch jeden Augenblick^gehemmt durch den Dämon einer geheiligten Autorität wieder zurücksinke, eine Dialektik, die zwar ein ideales versöhnendes Ziel im Auge hat, aber inneren Widerspruchs voll den Weg dazu nur durch künstliche und — man kann es nicht läugnen — sophistische Mittel finden kann, um am Ende doch des Zieles zu verfehlen. Wie oft ist Schleiermacher nahe daran, die mythische Auffassung der überlieferten Berichte anzuerkennen, aber indem er den Schritt thun will, zupft ihn jener böse Dämon am Arme und spiegelt ihm ein Auskunftsmittel vor, bei welchem er sich, wenn auch ungern, beruhigt. Wie frei ist im Grund seine Stellung zur Schrift, und wie wird sie doch wieder eingeengt durch Machtsprüche des sub- jectiven Bedürfnisses, durch Lieblingsmeinungen, in welchen.sich jene Gebunden¬ heit verräth! Wie klar fühlt er die Widersprüche der evangelischen Bericht¬ erstatter, welche seine Nachfolger wieder ängstlich zuzudecken beflissen sind! Aber wo er sich zur Entscheidung für oder wider genöthigt sieht, sind es wiederum nicht objective Gründe, welche ihn bestimmen, sondern vorgefaßte Meinungen, die ihren letzten Grund darin haben, daß er nun einmal entschlossen ist, den Hauptwiderspruch nicht anzuerkennen und, gehe es wie es wolle, zu vergleichen, den Widerspruch zwischen dem Kirchenglauben und dem modernen Denken. Wie ernst fühlt er das Bedürfniß, das Leben Jesu als ein echt mensch¬ liches darzustellen, aber er will zugleich nichts von dem göttlichen Erlöser der Kirche wissen. Er schafft sich für sein persönliches Bedürfniß ein Idealbild vom Erlöser, das aber weder den Anforderungen der Autorität noch den Denkgesetzen des modernen Geistes entspricht, und indem er dieses Idealbild, das nur für den mystischen Glauben Realität hat, auf kritischem Wege zu gewinnen und zu beweisen sucht, zerstört er es selbst mit unbarmherzigen Händen. So ist denn dieses Leben Jesu der getreue Ausdruck der Periode, welche dem Strauß- feder Werk unmittelbar vorausging, einer Periode, die das Neue wollte und wieder nicht wollte, die an das Alte sich anklammerte und nicht wußte, durch welche Kluft sie bereits von ihm getrennt war. Es hat ein Janusgesicht, wie die ganze schleiermachersche Theologie: der sich auf den Scheideweg gestellt sah. war kein Herakles. Ein Leben Schleiermachers, eine umfassende Charakteristik dieses reichen Geistes ist bekanntlich noch zu schreiben. Mit Recht haben die Schüler nicht Zu frühe an eine Aufgabe sich gewagt, welche eine ungewöhnliche Vereinigung von Fähigkeiten, umfassende Kenntniß der zeitgenössischen Bestrebungen^ Kunst und Wissenschaft, Kirche und Staat,, liebevolles Eindringen in eine der viel¬ maligsten und eigenthümlichsten Persönlichkeiten und dabei ein freies überschauen¬ des Urtheil und nüchterne Kritik erfordert. Inzwischen rückt die Gcsammtaus- 66"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/471>, abgerufen am 23.07.2024.