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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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während die materielle Sicherung und der solide Aufbau der Garantien offen¬
bar von unten beginnen müssen.

Ungefähr dasselbe Maß von Selbständigkeit und politischen Rechten, wel¬
ches in dem allgemeinen Staatsleben gewährt werden kann, muß auch dem
communalen Dasein zu Grunde gelegt werden. Wir halten es daher für ein
Mißverhältnis;, daß das Wahlrecht zur Stadtvertretung noch nicht einmal dem
zur allgemeinen Volksvertretung entspricht. In dem Dreiclassensystem, welches
den Wahlen zum Abgeordnetenhause zu Grunde gelegt wird, findet wenigstens
insofern eine allgemeine Theilnahme statt, als in die letzte Classe auch diejenigen
aufgenommen werden, welche gar keine Staatssteuern zahlen. Dagegen ist für
Ine Theilnahme an der Wahl der Stadtverordneten ein gewisser Census erfor¬
derlich, und hierzu kommt noch, daß die Wahlfähigkeit zur Stadtverordneten¬
versammlung für die Hälfte der zu Wählenden dem Haus- und Grundbesitzcr-
thum gesichert ist. Besonders diese letztere Bestimmung befindet sich im Wider¬
spruch mit der gegenwärtigen Form der Gesellschaft. Sollte man geltend
machen wollen, daß ja auch in allgemein staatlicher Hinsicht ein ähnliches Prin>
cip, nämlich ebenfalls eine künstlich gesicherte Vertretung in der Schöpfung des
Herrenhauses Ausdruck gefunden hat, so würden wir auch in diesem Falle die
Consequenzen der modernen Gesellschaftsform gegen eine zu weit gehende Ver¬
tretung des Grundherrnthums geltend machen. Die veränderte Volkswirthschaft
muß auch eine Veränderung der politischen Gestaltung und der politischen Be¬
rechtigungen mit sich bringen. Ein Industriestaat kann nicht dieselbe politische
Verfassung haben wie ein Ackerbaustaat, und eine Stadtverfassung, die sich vor¬
nehmlich auf den Handwerksbetrieb und das Zunftwesen gründet, muß eine
andere sein, als diejenige eines Sitzes der modernen Fabrikation und des grö¬
ßeren Handels. So lange die Gemeinwesen noch vorwiegend mit der Aus¬
beutung des Grund und Bodens beschäftigt waren, mußte 'der Grundbesitz die
fast ausschließliche Vertretung der allgemeinen Interessen thatsächlich und recht¬
lich abgeben. Jetzt unter den veränderten Verkehrsverhältnissen ist das Grund-
und besonders das Hauseigenthum eine Waare, die verhältnißmäßig rasch um¬
läuft und sich daher, selbst von ihrer gegenwärtig nur untergeordneten wirth¬
schaftlichen Bedeutung abgesehn, sehr schlecht zur Grundlage politischer Rechte
eignet. Wenn man den kolossalen Abstand bedenkt, der ein vorwiegend acker¬
bautreibendes Gemeinwesen von dem modernen Manufactur- und Handelsstaat
trennt, so kann man allenfalls den Einkommen- oder Steuercensus, aber nicht
mehr eine Vorherrschaft des Grundbesitzes als gerechtfertigt erachten. Was nnn
gar den städtischen Grundbesitz betrifft, der doch hauptsächlich HauseigenthuM
ist, so möchten die vielen Hypotheken doch auch in Anschlag zu bringen sein,
und es dürste sich das Vorrecht der städtischen Grundbesitzer wohl auf keine
Weise mehr vertheidigen lassen.


während die materielle Sicherung und der solide Aufbau der Garantien offen¬
bar von unten beginnen müssen.

Ungefähr dasselbe Maß von Selbständigkeit und politischen Rechten, wel¬
ches in dem allgemeinen Staatsleben gewährt werden kann, muß auch dem
communalen Dasein zu Grunde gelegt werden. Wir halten es daher für ein
Mißverhältnis;, daß das Wahlrecht zur Stadtvertretung noch nicht einmal dem
zur allgemeinen Volksvertretung entspricht. In dem Dreiclassensystem, welches
den Wahlen zum Abgeordnetenhause zu Grunde gelegt wird, findet wenigstens
insofern eine allgemeine Theilnahme statt, als in die letzte Classe auch diejenigen
aufgenommen werden, welche gar keine Staatssteuern zahlen. Dagegen ist für
Ine Theilnahme an der Wahl der Stadtverordneten ein gewisser Census erfor¬
derlich, und hierzu kommt noch, daß die Wahlfähigkeit zur Stadtverordneten¬
versammlung für die Hälfte der zu Wählenden dem Haus- und Grundbesitzcr-
thum gesichert ist. Besonders diese letztere Bestimmung befindet sich im Wider¬
spruch mit der gegenwärtigen Form der Gesellschaft. Sollte man geltend
machen wollen, daß ja auch in allgemein staatlicher Hinsicht ein ähnliches Prin>
cip, nämlich ebenfalls eine künstlich gesicherte Vertretung in der Schöpfung des
Herrenhauses Ausdruck gefunden hat, so würden wir auch in diesem Falle die
Consequenzen der modernen Gesellschaftsform gegen eine zu weit gehende Ver¬
tretung des Grundherrnthums geltend machen. Die veränderte Volkswirthschaft
muß auch eine Veränderung der politischen Gestaltung und der politischen Be¬
rechtigungen mit sich bringen. Ein Industriestaat kann nicht dieselbe politische
Verfassung haben wie ein Ackerbaustaat, und eine Stadtverfassung, die sich vor¬
nehmlich auf den Handwerksbetrieb und das Zunftwesen gründet, muß eine
andere sein, als diejenige eines Sitzes der modernen Fabrikation und des grö¬
ßeren Handels. So lange die Gemeinwesen noch vorwiegend mit der Aus¬
beutung des Grund und Bodens beschäftigt waren, mußte 'der Grundbesitz die
fast ausschließliche Vertretung der allgemeinen Interessen thatsächlich und recht¬
lich abgeben. Jetzt unter den veränderten Verkehrsverhältnissen ist das Grund-
und besonders das Hauseigenthum eine Waare, die verhältnißmäßig rasch um¬
läuft und sich daher, selbst von ihrer gegenwärtig nur untergeordneten wirth¬
schaftlichen Bedeutung abgesehn, sehr schlecht zur Grundlage politischer Rechte
eignet. Wenn man den kolossalen Abstand bedenkt, der ein vorwiegend acker¬
bautreibendes Gemeinwesen von dem modernen Manufactur- und Handelsstaat
trennt, so kann man allenfalls den Einkommen- oder Steuercensus, aber nicht
mehr eine Vorherrschaft des Grundbesitzes als gerechtfertigt erachten. Was nnn
gar den städtischen Grundbesitz betrifft, der doch hauptsächlich HauseigenthuM
ist, so möchten die vielen Hypotheken doch auch in Anschlag zu bringen sein,
und es dürste sich das Vorrecht der städtischen Grundbesitzer wohl auf keine
Weise mehr vertheidigen lassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/442>, abgerufen am 23.07.2024.