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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Menschenalter praktisch wird. Herr Biedermann freilich bezeichnet mich als ra¬
dialer Unitarier. Zu seiner Ehre nehme ich an, daß er mein Buch nur durch¬
blättert hat; wenn er auf S. 689 f. nachschlägt, wird er finden, daß er mir
Unrecht gethan hat. -- Nur Eines scheint mir schon jetzt sicher: daß Deutsch¬
lands Einheit allein zu erreichen ist durch den Anschluß der Kleinstaaten an
Preußen. Die Weise dieses Anschlusses bangt ab von Verhältnissen, die kein
Seher heute ahnen mag.

Die brennende Frage des Augenblicks dagegen steht nicht in unmittelbarem
Zusammenhange mit der Frage der deutschen Zukunft. Jahrelang haben unsere
Patrioten geglaubt, die Schleswig.holsteinische Frage sei die deutsche Frage selber;
Wer die eine löse, werde auch die andere zum Ende bringen. Die Erfahrung
hat das Irrige dieser Meinung offenbart; und ich zweifle nicht, Herrn Bieder¬
manns jetzige Ansicht, die Schleswig-holsteinische Frage sei die deutsche Frage
"im Kleinen", wird schon in der nächsten Zukunft als gleichfalls unhaltbar sich
erweisen. Wie immer die Entscheidung im Norden fallen mag, das Problem
der deutschen Zukunft wird nach wie vor unverändert vor uns liegen. Ist es
überhaupt möglich, einen Staat von 19 Millionen Menschen mit einigen
Dutzend Kleinstaaten zu einem lebensfähigen Bundesstaat zu verschmelzen, so
wuß dies auch möglich sein, wenn dieser Staat 20 Millionen zählt. Die
Unterordnung Schleswig-Holsteins unter Preußens Oberhoheit bildet keinen
Präcedenzfall für den deutschen Bundesstaat; denn zwischen einem Vasallen und
dem gleichberechtigten Gliede einer großen Föderation ist ein himmelweiter
Unterschied. Desgleichen die Annexion eines bisher abhängigen und augen¬
blicklich herrenlosen Landes, das einer Neuordnung bedarf, bildet keinen Prä¬
cedenzfall für die Annexion von Staaten, welche seit einem halben Jahrhundert
der Selbständigkeit und einer rechtlich anerkannten Ordnung sich erfreuen. Da¬
her glaube ich, auch die unbedingten Anhänger des Bundesstaates sind in dem
Vorliegenden außerordentlichen Falle verpflichtet, für die Annexion zu wirken,
damit nicht einem problematischen zukünftigen Gute zu Lieb' ein realer gegen¬
wärtiger Gewinn verscherzt werde. Herr Biedermann mag diese Ansichten falsch,
er mag sie ruchlos oder auch "unorganisch" finden: an Deutlichkeit lassen sie
sicherlich nichts zu wünschen übrig.

Der Ausgang des transalbingischen Handels wird schwerlich den Hoff¬
nungen der Patrioten entsprechen. Die Verbindung Preußens mit Oestreich
^ird, wie zu fürchtrn steht, sich bestrafen, und auch der Zeitpunkt kann kommen,
da fremde Mächte, gewarnt durch die patriotischen Mahnungen mittelstaatlicher
Diplomaten, plötzlich entdecken, das Gleichgewicht im Norden sei gefährdet.
Die Haltung der Presse wird freilich auf diese Dinge nur geringen Einfluß
"den; darum kann einem großen Theil der liberalen Zeitungen doch nicht der
Vorwurf erspart werden, daß sie nicht rechtzeitig verstanden, über einer großen


Menschenalter praktisch wird. Herr Biedermann freilich bezeichnet mich als ra¬
dialer Unitarier. Zu seiner Ehre nehme ich an, daß er mein Buch nur durch¬
blättert hat; wenn er auf S. 689 f. nachschlägt, wird er finden, daß er mir
Unrecht gethan hat. — Nur Eines scheint mir schon jetzt sicher: daß Deutsch¬
lands Einheit allein zu erreichen ist durch den Anschluß der Kleinstaaten an
Preußen. Die Weise dieses Anschlusses bangt ab von Verhältnissen, die kein
Seher heute ahnen mag.

Die brennende Frage des Augenblicks dagegen steht nicht in unmittelbarem
Zusammenhange mit der Frage der deutschen Zukunft. Jahrelang haben unsere
Patrioten geglaubt, die Schleswig.holsteinische Frage sei die deutsche Frage selber;
Wer die eine löse, werde auch die andere zum Ende bringen. Die Erfahrung
hat das Irrige dieser Meinung offenbart; und ich zweifle nicht, Herrn Bieder¬
manns jetzige Ansicht, die Schleswig-holsteinische Frage sei die deutsche Frage
«im Kleinen", wird schon in der nächsten Zukunft als gleichfalls unhaltbar sich
erweisen. Wie immer die Entscheidung im Norden fallen mag, das Problem
der deutschen Zukunft wird nach wie vor unverändert vor uns liegen. Ist es
überhaupt möglich, einen Staat von 19 Millionen Menschen mit einigen
Dutzend Kleinstaaten zu einem lebensfähigen Bundesstaat zu verschmelzen, so
wuß dies auch möglich sein, wenn dieser Staat 20 Millionen zählt. Die
Unterordnung Schleswig-Holsteins unter Preußens Oberhoheit bildet keinen
Präcedenzfall für den deutschen Bundesstaat; denn zwischen einem Vasallen und
dem gleichberechtigten Gliede einer großen Föderation ist ein himmelweiter
Unterschied. Desgleichen die Annexion eines bisher abhängigen und augen¬
blicklich herrenlosen Landes, das einer Neuordnung bedarf, bildet keinen Prä¬
cedenzfall für die Annexion von Staaten, welche seit einem halben Jahrhundert
der Selbständigkeit und einer rechtlich anerkannten Ordnung sich erfreuen. Da¬
her glaube ich, auch die unbedingten Anhänger des Bundesstaates sind in dem
Vorliegenden außerordentlichen Falle verpflichtet, für die Annexion zu wirken,
damit nicht einem problematischen zukünftigen Gute zu Lieb' ein realer gegen¬
wärtiger Gewinn verscherzt werde. Herr Biedermann mag diese Ansichten falsch,
er mag sie ruchlos oder auch „unorganisch" finden: an Deutlichkeit lassen sie
sicherlich nichts zu wünschen übrig.

Der Ausgang des transalbingischen Handels wird schwerlich den Hoff¬
nungen der Patrioten entsprechen. Die Verbindung Preußens mit Oestreich
^ird, wie zu fürchtrn steht, sich bestrafen, und auch der Zeitpunkt kann kommen,
da fremde Mächte, gewarnt durch die patriotischen Mahnungen mittelstaatlicher
Diplomaten, plötzlich entdecken, das Gleichgewicht im Norden sei gefährdet.
Die Haltung der Presse wird freilich auf diese Dinge nur geringen Einfluß
"den; darum kann einem großen Theil der liberalen Zeitungen doch nicht der
Vorwurf erspart werden, daß sie nicht rechtzeitig verstanden, über einer großen


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[0421] Menschenalter praktisch wird. Herr Biedermann freilich bezeichnet mich als ra¬ dialer Unitarier. Zu seiner Ehre nehme ich an, daß er mein Buch nur durch¬ blättert hat; wenn er auf S. 689 f. nachschlägt, wird er finden, daß er mir Unrecht gethan hat. — Nur Eines scheint mir schon jetzt sicher: daß Deutsch¬ lands Einheit allein zu erreichen ist durch den Anschluß der Kleinstaaten an Preußen. Die Weise dieses Anschlusses bangt ab von Verhältnissen, die kein Seher heute ahnen mag. Die brennende Frage des Augenblicks dagegen steht nicht in unmittelbarem Zusammenhange mit der Frage der deutschen Zukunft. Jahrelang haben unsere Patrioten geglaubt, die Schleswig.holsteinische Frage sei die deutsche Frage selber; Wer die eine löse, werde auch die andere zum Ende bringen. Die Erfahrung hat das Irrige dieser Meinung offenbart; und ich zweifle nicht, Herrn Bieder¬ manns jetzige Ansicht, die Schleswig-holsteinische Frage sei die deutsche Frage «im Kleinen", wird schon in der nächsten Zukunft als gleichfalls unhaltbar sich erweisen. Wie immer die Entscheidung im Norden fallen mag, das Problem der deutschen Zukunft wird nach wie vor unverändert vor uns liegen. Ist es überhaupt möglich, einen Staat von 19 Millionen Menschen mit einigen Dutzend Kleinstaaten zu einem lebensfähigen Bundesstaat zu verschmelzen, so wuß dies auch möglich sein, wenn dieser Staat 20 Millionen zählt. Die Unterordnung Schleswig-Holsteins unter Preußens Oberhoheit bildet keinen Präcedenzfall für den deutschen Bundesstaat; denn zwischen einem Vasallen und dem gleichberechtigten Gliede einer großen Föderation ist ein himmelweiter Unterschied. Desgleichen die Annexion eines bisher abhängigen und augen¬ blicklich herrenlosen Landes, das einer Neuordnung bedarf, bildet keinen Prä¬ cedenzfall für die Annexion von Staaten, welche seit einem halben Jahrhundert der Selbständigkeit und einer rechtlich anerkannten Ordnung sich erfreuen. Da¬ her glaube ich, auch die unbedingten Anhänger des Bundesstaates sind in dem Vorliegenden außerordentlichen Falle verpflichtet, für die Annexion zu wirken, damit nicht einem problematischen zukünftigen Gute zu Lieb' ein realer gegen¬ wärtiger Gewinn verscherzt werde. Herr Biedermann mag diese Ansichten falsch, er mag sie ruchlos oder auch „unorganisch" finden: an Deutlichkeit lassen sie sicherlich nichts zu wünschen übrig. Der Ausgang des transalbingischen Handels wird schwerlich den Hoff¬ nungen der Patrioten entsprechen. Die Verbindung Preußens mit Oestreich ^ird, wie zu fürchtrn steht, sich bestrafen, und auch der Zeitpunkt kann kommen, da fremde Mächte, gewarnt durch die patriotischen Mahnungen mittelstaatlicher Diplomaten, plötzlich entdecken, das Gleichgewicht im Norden sei gefährdet. Die Haltung der Presse wird freilich auf diese Dinge nur geringen Einfluß "den; darum kann einem großen Theil der liberalen Zeitungen doch nicht der Vorwurf erspart werden, daß sie nicht rechtzeitig verstanden, über einer großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/421>, abgerufen am 23.07.2024.