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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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die Zeit in ihren verschiedenen Richtungen hervorgebracht hat, sondern umge-
kehrt hat auch die allgemeine Stimmung in ihrer an der Kunst noch nicht ge¬
bildeten Naivetät auf die Anschauung und Arbeit des Künstlers eingewirkt.
Und so ergiebt sich aus diesem Wechselverhältniß, wie weit die Kunst selber
jener Stimmung sich unterordnete und fügte, wie weit sie dieselbe zu bilden
und zu veredeln suchte.

Als durch den Umschwung des ganzen Lebens zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts der Zusammenhang mit den ohnehin schon abgängigen Kunstformen
vollends zerrissen war, die Kriegsstürme hereinbrachen und die Umwälzung aller
Verhältnisse alles ins Ungewisse brachte: da ging auch das Kunstinteresse und
Kunstverständniß, das sich bis dahin durch die Tradition noch erhalten hatte,
verloren. Schon die Kunst des Noccoco und de? Zopfs war mehr eine höfische
gewesen, als daß sie im Sinn des Volkes gewurzelt hätte. Doch da im acht¬
zehnten Jahrhundert der Fürst und sein Hof der einzige Ausdruck des öffentlichen
Lebens waren, so empfing von ihnen der Geschmack des großen Publikums seine
Anregung und Richtung. Die selbständige Bildung der mittlen Stände faßte
sich in der Aufklärung zusammen und diese mit ihrem nüchternen Gesichtspunkte
des Nutzens war der Kunst abgeneigt oder stellte an sie die ihr fremde Forde¬
rung des moralischen Zwecks. So weit aber die Kunst aus ächtem inneren
Bedürfniß sich zu erneuern strebte, griff sie -- wie in den neuen Zeiten jeder
junge frische Gestaltungstrieb -- im Einklang mit der neuaufblühenden Literatur
zum Vorbild der Antike zurück. Natürlich blieb diese classische Richtung, gegen¬
über der Ungunst aller Zustände und der Verwirrung des erst anbrechenden
neuen socialen und politischen Lebens, auf die abgeschlossenen Kreise der dem
Jahrhundert vorangceiltcn Bildung beschränkt. So war am Beginn unseres
Zeitalters die künstlerische Phantasie des Volkes wie ausgeleert, eine unbeschrie¬
bene Tafel, auf der die alten Züge verblaßt und neue noch nicht eingegraben
waren; sein ästhetisches Auge noch wie mit einer Binde umhüllt, unfähig so¬
wohl in der gährenden Menge der erst werdenden Dinge sich zurecht zu finden,
als sich über die Noth der Gegenwart in eine ideale Welt zu erheben. Wenn
sich vorab in der Architektur die künstlerische Stimmung der Zeit ihren Aus¬
druck giebt, so vermögen die Bauwerke vom Anfang des Jahrhunderts den Cha¬
rakter jener Epoche wohl zu kennzeichnen. Die nackten glicderlosen Wände
des "Kommisstils" mit ihren gähnenden Fensteröffnungen, ebenso reizlos und
langweilig, wie das bloße Bedürfniß, dessen nüchternen Stempel sie tragen, die
letzte Verkörperung jener Aufklärung, welche das Nützliche und Zweckdienliche
zum Weltprincip machte, zeugten zugleich von dem vollständigen Bankerott,
welche der Kunstsinn unter dem Umsturz der Dinge damals erlitten hatte.

Da tauchte mit der Wendung der Dinge zum Besseren und dem neu-
erwachcnden Streben nach Selbständigkeit auch das Verlangen nach dem kunst-


die Zeit in ihren verschiedenen Richtungen hervorgebracht hat, sondern umge-
kehrt hat auch die allgemeine Stimmung in ihrer an der Kunst noch nicht ge¬
bildeten Naivetät auf die Anschauung und Arbeit des Künstlers eingewirkt.
Und so ergiebt sich aus diesem Wechselverhältniß, wie weit die Kunst selber
jener Stimmung sich unterordnete und fügte, wie weit sie dieselbe zu bilden
und zu veredeln suchte.

Als durch den Umschwung des ganzen Lebens zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts der Zusammenhang mit den ohnehin schon abgängigen Kunstformen
vollends zerrissen war, die Kriegsstürme hereinbrachen und die Umwälzung aller
Verhältnisse alles ins Ungewisse brachte: da ging auch das Kunstinteresse und
Kunstverständniß, das sich bis dahin durch die Tradition noch erhalten hatte,
verloren. Schon die Kunst des Noccoco und de? Zopfs war mehr eine höfische
gewesen, als daß sie im Sinn des Volkes gewurzelt hätte. Doch da im acht¬
zehnten Jahrhundert der Fürst und sein Hof der einzige Ausdruck des öffentlichen
Lebens waren, so empfing von ihnen der Geschmack des großen Publikums seine
Anregung und Richtung. Die selbständige Bildung der mittlen Stände faßte
sich in der Aufklärung zusammen und diese mit ihrem nüchternen Gesichtspunkte
des Nutzens war der Kunst abgeneigt oder stellte an sie die ihr fremde Forde¬
rung des moralischen Zwecks. So weit aber die Kunst aus ächtem inneren
Bedürfniß sich zu erneuern strebte, griff sie — wie in den neuen Zeiten jeder
junge frische Gestaltungstrieb — im Einklang mit der neuaufblühenden Literatur
zum Vorbild der Antike zurück. Natürlich blieb diese classische Richtung, gegen¬
über der Ungunst aller Zustände und der Verwirrung des erst anbrechenden
neuen socialen und politischen Lebens, auf die abgeschlossenen Kreise der dem
Jahrhundert vorangceiltcn Bildung beschränkt. So war am Beginn unseres
Zeitalters die künstlerische Phantasie des Volkes wie ausgeleert, eine unbeschrie¬
bene Tafel, auf der die alten Züge verblaßt und neue noch nicht eingegraben
waren; sein ästhetisches Auge noch wie mit einer Binde umhüllt, unfähig so¬
wohl in der gährenden Menge der erst werdenden Dinge sich zurecht zu finden,
als sich über die Noth der Gegenwart in eine ideale Welt zu erheben. Wenn
sich vorab in der Architektur die künstlerische Stimmung der Zeit ihren Aus¬
druck giebt, so vermögen die Bauwerke vom Anfang des Jahrhunderts den Cha¬
rakter jener Epoche wohl zu kennzeichnen. Die nackten glicderlosen Wände
des „Kommisstils" mit ihren gähnenden Fensteröffnungen, ebenso reizlos und
langweilig, wie das bloße Bedürfniß, dessen nüchternen Stempel sie tragen, die
letzte Verkörperung jener Aufklärung, welche das Nützliche und Zweckdienliche
zum Weltprincip machte, zeugten zugleich von dem vollständigen Bankerott,
welche der Kunstsinn unter dem Umsturz der Dinge damals erlitten hatte.

Da tauchte mit der Wendung der Dinge zum Besseren und dem neu-
erwachcnden Streben nach Selbständigkeit auch das Verlangen nach dem kunst-


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[0306] die Zeit in ihren verschiedenen Richtungen hervorgebracht hat, sondern umge- kehrt hat auch die allgemeine Stimmung in ihrer an der Kunst noch nicht ge¬ bildeten Naivetät auf die Anschauung und Arbeit des Künstlers eingewirkt. Und so ergiebt sich aus diesem Wechselverhältniß, wie weit die Kunst selber jener Stimmung sich unterordnete und fügte, wie weit sie dieselbe zu bilden und zu veredeln suchte. Als durch den Umschwung des ganzen Lebens zu Ende des vorigen Jahr¬ hunderts der Zusammenhang mit den ohnehin schon abgängigen Kunstformen vollends zerrissen war, die Kriegsstürme hereinbrachen und die Umwälzung aller Verhältnisse alles ins Ungewisse brachte: da ging auch das Kunstinteresse und Kunstverständniß, das sich bis dahin durch die Tradition noch erhalten hatte, verloren. Schon die Kunst des Noccoco und de? Zopfs war mehr eine höfische gewesen, als daß sie im Sinn des Volkes gewurzelt hätte. Doch da im acht¬ zehnten Jahrhundert der Fürst und sein Hof der einzige Ausdruck des öffentlichen Lebens waren, so empfing von ihnen der Geschmack des großen Publikums seine Anregung und Richtung. Die selbständige Bildung der mittlen Stände faßte sich in der Aufklärung zusammen und diese mit ihrem nüchternen Gesichtspunkte des Nutzens war der Kunst abgeneigt oder stellte an sie die ihr fremde Forde¬ rung des moralischen Zwecks. So weit aber die Kunst aus ächtem inneren Bedürfniß sich zu erneuern strebte, griff sie — wie in den neuen Zeiten jeder junge frische Gestaltungstrieb — im Einklang mit der neuaufblühenden Literatur zum Vorbild der Antike zurück. Natürlich blieb diese classische Richtung, gegen¬ über der Ungunst aller Zustände und der Verwirrung des erst anbrechenden neuen socialen und politischen Lebens, auf die abgeschlossenen Kreise der dem Jahrhundert vorangceiltcn Bildung beschränkt. So war am Beginn unseres Zeitalters die künstlerische Phantasie des Volkes wie ausgeleert, eine unbeschrie¬ bene Tafel, auf der die alten Züge verblaßt und neue noch nicht eingegraben waren; sein ästhetisches Auge noch wie mit einer Binde umhüllt, unfähig so¬ wohl in der gährenden Menge der erst werdenden Dinge sich zurecht zu finden, als sich über die Noth der Gegenwart in eine ideale Welt zu erheben. Wenn sich vorab in der Architektur die künstlerische Stimmung der Zeit ihren Aus¬ druck giebt, so vermögen die Bauwerke vom Anfang des Jahrhunderts den Cha¬ rakter jener Epoche wohl zu kennzeichnen. Die nackten glicderlosen Wände des „Kommisstils" mit ihren gähnenden Fensteröffnungen, ebenso reizlos und langweilig, wie das bloße Bedürfniß, dessen nüchternen Stempel sie tragen, die letzte Verkörperung jener Aufklärung, welche das Nützliche und Zweckdienliche zum Weltprincip machte, zeugten zugleich von dem vollständigen Bankerott, welche der Kunstsinn unter dem Umsturz der Dinge damals erlitten hatte. Da tauchte mit der Wendung der Dinge zum Besseren und dem neu- erwachcnden Streben nach Selbständigkeit auch das Verlangen nach dem kunst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/306>, abgerufen am 23.07.2024.