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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Darstellungen abzurunden und Problemen, die bei uns allzulang in der Ge¬
lehrtenwelt verschlossen blieben, eine praktische Spitze zu geben weiß. Besonders
voraus sind uns die Franzosen in der Anwendung der wissenschaftlichen Fort¬
schritte auf das kirchliche Leben, auf Kanzel und Schule. Ihnen ist es undenk¬
bar, daß die Theologie in den letzten dreißig Jahren Riesenschritte gemacht hat
und das kirchliche Leben sich in dem hergebrachten Schlendrian fortbewegen soll;
unbegreiflich ist ihnen die Schwerfälligkeit, die uns kaum daran denken läßt,
den Gewinn aus den Gelehrtenstuben hinaufzutragen in die lebendige Wirklich¬
keit. Der einzige praktische Erfolg aus den neuesten Debatten, dessen wir uns
rühmen können, ist der durch Schenkels Buch veranlaßte Erlaß der badischen
Oberkirchenbehörde. Aber so hoch wir unter unsern Verhältnissen dieses Votum
anschlagen, was ist doch dieser Erlaß einer Behörde gegen die spontane frische
Bewegung, welche der französische Protestantismus seit etwa einem Jahrzehnt
zeigt, und die sich unter Laien wie unter Geistlichen, auf den Pastoralconferenzen
wie in den Salons, in Kirche und Schule, in der Literatur und in der Presse
zu erkennen giebt! Diese ganze praktische Richtung, welche auch die gebildeten
Laien weit tiefer als dies bei uns möglich ist, wieder in das Interesse für reli¬
giöse und kirchliche Fragen gezogen hat, fordert unser ernstes Nachdenken heraus.
Wir dürfen in dieser Beziehung von dem französischen Protestantismus um so
eher lernen als wir nur die Früchte unserer eigenen Geistesarbeit von ihm
zurückerhalten werden. Daß wir außerdem auch noch für die wissenschaftliche
Erörterung etwas profitiren können, mag neben den gelehrten Werken von
Ed. Reuß, dessen Geschichte der christlichen Theologie im apostolischen Zeitalter
soeben in dritter Auflage erschienen ist, das in der Ueberschrift genannte Buch
von T. Colcini bezeugen, welcher in seiner eigenen Person die Verbindung
von Praxis und Wissenschaft in einer Weise darstellt, wie sie bei uns seit
Schleiermacher mehr und mehr abhanden gekommen ist. Denn Colani, derselbe,
der vor einem halben Jahre trotz des Geschreis der Orthodoxen zum ordentlichen
Professor an der theologischen Facultät zu Straßburg ernannt wurde, ist nicht
blos unbestritten der erste Prediger des heutigen protestantischen Frankreich,
sondern er hat in seiner Kevrw äA tlrsolcgis (seit 18S0), dem Sammelplatz
der freisinnigen Theolvgcnschule des Elsaß, auch für die Besprechung wissenschaft¬
licher Fragen ein einflußreiches Organ gegründet, das für die Vermittlung
deutscher und französischer Geistesarbeit epochemachend gewesen ist.

Den Charakter einer Mittelstellung zwischen französischer und deutscher
Wissenschaft hat nun auch sein Buch über Jesus und die Mcsstasidee, schon
hinsichtlich der Methode, welche von der Straußfeder wie von derjenigen RenanS
gleichweit entfernt ist. Denn einerseits ist es weit kritischer, es hat einen weit
solideren wissenschaftlichen Boden als das berühmte Werk seines Landsmanns,
es zeigt eine Vielseitige gründliche Kenntniß der deutschen Literatur und ist vom


Darstellungen abzurunden und Problemen, die bei uns allzulang in der Ge¬
lehrtenwelt verschlossen blieben, eine praktische Spitze zu geben weiß. Besonders
voraus sind uns die Franzosen in der Anwendung der wissenschaftlichen Fort¬
schritte auf das kirchliche Leben, auf Kanzel und Schule. Ihnen ist es undenk¬
bar, daß die Theologie in den letzten dreißig Jahren Riesenschritte gemacht hat
und das kirchliche Leben sich in dem hergebrachten Schlendrian fortbewegen soll;
unbegreiflich ist ihnen die Schwerfälligkeit, die uns kaum daran denken läßt,
den Gewinn aus den Gelehrtenstuben hinaufzutragen in die lebendige Wirklich¬
keit. Der einzige praktische Erfolg aus den neuesten Debatten, dessen wir uns
rühmen können, ist der durch Schenkels Buch veranlaßte Erlaß der badischen
Oberkirchenbehörde. Aber so hoch wir unter unsern Verhältnissen dieses Votum
anschlagen, was ist doch dieser Erlaß einer Behörde gegen die spontane frische
Bewegung, welche der französische Protestantismus seit etwa einem Jahrzehnt
zeigt, und die sich unter Laien wie unter Geistlichen, auf den Pastoralconferenzen
wie in den Salons, in Kirche und Schule, in der Literatur und in der Presse
zu erkennen giebt! Diese ganze praktische Richtung, welche auch die gebildeten
Laien weit tiefer als dies bei uns möglich ist, wieder in das Interesse für reli¬
giöse und kirchliche Fragen gezogen hat, fordert unser ernstes Nachdenken heraus.
Wir dürfen in dieser Beziehung von dem französischen Protestantismus um so
eher lernen als wir nur die Früchte unserer eigenen Geistesarbeit von ihm
zurückerhalten werden. Daß wir außerdem auch noch für die wissenschaftliche
Erörterung etwas profitiren können, mag neben den gelehrten Werken von
Ed. Reuß, dessen Geschichte der christlichen Theologie im apostolischen Zeitalter
soeben in dritter Auflage erschienen ist, das in der Ueberschrift genannte Buch
von T. Colcini bezeugen, welcher in seiner eigenen Person die Verbindung
von Praxis und Wissenschaft in einer Weise darstellt, wie sie bei uns seit
Schleiermacher mehr und mehr abhanden gekommen ist. Denn Colani, derselbe,
der vor einem halben Jahre trotz des Geschreis der Orthodoxen zum ordentlichen
Professor an der theologischen Facultät zu Straßburg ernannt wurde, ist nicht
blos unbestritten der erste Prediger des heutigen protestantischen Frankreich,
sondern er hat in seiner Kevrw äA tlrsolcgis (seit 18S0), dem Sammelplatz
der freisinnigen Theolvgcnschule des Elsaß, auch für die Besprechung wissenschaft¬
licher Fragen ein einflußreiches Organ gegründet, das für die Vermittlung
deutscher und französischer Geistesarbeit epochemachend gewesen ist.

Den Charakter einer Mittelstellung zwischen französischer und deutscher
Wissenschaft hat nun auch sein Buch über Jesus und die Mcsstasidee, schon
hinsichtlich der Methode, welche von der Straußfeder wie von derjenigen RenanS
gleichweit entfernt ist. Denn einerseits ist es weit kritischer, es hat einen weit
solideren wissenschaftlichen Boden als das berühmte Werk seines Landsmanns,
es zeigt eine Vielseitige gründliche Kenntniß der deutschen Literatur und ist vom


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[0134] Darstellungen abzurunden und Problemen, die bei uns allzulang in der Ge¬ lehrtenwelt verschlossen blieben, eine praktische Spitze zu geben weiß. Besonders voraus sind uns die Franzosen in der Anwendung der wissenschaftlichen Fort¬ schritte auf das kirchliche Leben, auf Kanzel und Schule. Ihnen ist es undenk¬ bar, daß die Theologie in den letzten dreißig Jahren Riesenschritte gemacht hat und das kirchliche Leben sich in dem hergebrachten Schlendrian fortbewegen soll; unbegreiflich ist ihnen die Schwerfälligkeit, die uns kaum daran denken läßt, den Gewinn aus den Gelehrtenstuben hinaufzutragen in die lebendige Wirklich¬ keit. Der einzige praktische Erfolg aus den neuesten Debatten, dessen wir uns rühmen können, ist der durch Schenkels Buch veranlaßte Erlaß der badischen Oberkirchenbehörde. Aber so hoch wir unter unsern Verhältnissen dieses Votum anschlagen, was ist doch dieser Erlaß einer Behörde gegen die spontane frische Bewegung, welche der französische Protestantismus seit etwa einem Jahrzehnt zeigt, und die sich unter Laien wie unter Geistlichen, auf den Pastoralconferenzen wie in den Salons, in Kirche und Schule, in der Literatur und in der Presse zu erkennen giebt! Diese ganze praktische Richtung, welche auch die gebildeten Laien weit tiefer als dies bei uns möglich ist, wieder in das Interesse für reli¬ giöse und kirchliche Fragen gezogen hat, fordert unser ernstes Nachdenken heraus. Wir dürfen in dieser Beziehung von dem französischen Protestantismus um so eher lernen als wir nur die Früchte unserer eigenen Geistesarbeit von ihm zurückerhalten werden. Daß wir außerdem auch noch für die wissenschaftliche Erörterung etwas profitiren können, mag neben den gelehrten Werken von Ed. Reuß, dessen Geschichte der christlichen Theologie im apostolischen Zeitalter soeben in dritter Auflage erschienen ist, das in der Ueberschrift genannte Buch von T. Colcini bezeugen, welcher in seiner eigenen Person die Verbindung von Praxis und Wissenschaft in einer Weise darstellt, wie sie bei uns seit Schleiermacher mehr und mehr abhanden gekommen ist. Denn Colani, derselbe, der vor einem halben Jahre trotz des Geschreis der Orthodoxen zum ordentlichen Professor an der theologischen Facultät zu Straßburg ernannt wurde, ist nicht blos unbestritten der erste Prediger des heutigen protestantischen Frankreich, sondern er hat in seiner Kevrw äA tlrsolcgis (seit 18S0), dem Sammelplatz der freisinnigen Theolvgcnschule des Elsaß, auch für die Besprechung wissenschaft¬ licher Fragen ein einflußreiches Organ gegründet, das für die Vermittlung deutscher und französischer Geistesarbeit epochemachend gewesen ist. Den Charakter einer Mittelstellung zwischen französischer und deutscher Wissenschaft hat nun auch sein Buch über Jesus und die Mcsstasidee, schon hinsichtlich der Methode, welche von der Straußfeder wie von derjenigen RenanS gleichweit entfernt ist. Denn einerseits ist es weit kritischer, es hat einen weit solideren wissenschaftlichen Boden als das berühmte Werk seines Landsmanns, es zeigt eine Vielseitige gründliche Kenntniß der deutschen Literatur und ist vom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/134>, abgerufen am 23.07.2024.