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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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stammend auch für die Gegenwart ihre Geltung bewahrt haben, theils nach
dem Erlaß der Verfassung auf dem Wege der Gesetzgebung ins "Leben getreten
sind, in dies Verfassungssystcm einzureihen, so war es doch der bei weitem
schwierigere Theil der Aufgabe des Verfassers, die einzelnen Bestimmungen des
Systems von einem einheitlichen objectiven und wissenschaftlich unanfechtbaren
Standpunkte aus zu erläutern, und den innern Zusammenhang der einzelnen
Theile nachzuweisen, zugleich aber auch auf die innern Widersprüche, die sich
finden, hinzuweisen, und die Mittel zu ihrer Lösung anzugeben.

Die Bedeutung einer derartigen Erläuterung ist einleuchtend. Allerdings
kann die wissenschaftliche Interpretation einer staatsrechtlichen Bestimmung
an sich keinen Anspruch darauf machen, im concreten Falle maßgebend zu sein;
die authentische Interpretation des Verfassungsrechtes ist vielmehr ein Act
der Gesetzgebung; wohl aber wird die authentische Interpretation, wenn sie
anders gewissenhaft, d. h. objectiv verfahren will, sich den Resultaten der wissen¬
schaftlichen Forschung anschließen. Thut sie dies nicht, läßt sie sich vielmehr im
einzelnen Falle von Tendenzen, also etwa Zwcckmäßigkeitsgründen, leiten, so
hört sie auf Interpretation zu sein; sie wird in der That zur selbständigen Ge¬
setzgebung, ohne doch dem Scheine zu entsagen, nur eine Interpretation zu sein.
Durch das Einschlagen eines derartigen Verfahrens wird natürlich, gleichviel
ob die Interpretation im Interesse liberaler oder conservativer Principen ge¬
schieht, jede Stabilität des öffentlichen Rechtes in Frage gestellt. Es ist ver¬
nünftig, ein unzweckmäßiges Gesetz aufzuheben und ein besseres an dessen
Stelle zu setzen; es ist unter allen Umständen staatswidrig, die Schwierigkeiten,
die ein zu Necht bestehender Vcrfassungsparagraph der Verwaltung bietet, dadurch
zu überwinden, daß man der unbequemen Bestimmung einen Sinn unterlegt,
den dieselbe weder ihrem Wortlaute nach, >u>es nach der Stelle, die sie im Ge-
sammtorganismus der Verfassung einnimmt, haben kann.

Somit hat die systematische Behandlung des Verfassungsrechtes uicht blos
für die Wissenschaft, sondern auch für das praktische Staatsleben eine überaus
hohe Bedeutung, indem sie im Voraus die Normen ausstellt, nach denen vor¬
kommenden Falls Differenzen in der Auffassung dieser oder jener Bestimmung
der Verfassung zu beurtheilen und zu entscheiden sind. Ihr Werth ist natürlich
von der Gründlichkeit der Forschung und der Bündigkeit der Beweisführung
abhängig; sie ist wie jede andere wissenschaftliche Leistung der Kritik unter¬
worfen, die sich bekanntlich schon über die erste Auflage des vorliegenden Wer¬
kes mit wenigen Ausnahmen höchst günstig und anerkennend ausgesprochen hat:
wir stehen nicht a", uns für die zweite Auflage diesem Urtheil durchaus an¬
zuschließen.

Der Verfasser beherrscht das ganze slaatsnussenschaftliche Material so Voll¬
ständig, wie wenig andere, so daß in der Beziehung wohl schwerlich eine Lücke


stammend auch für die Gegenwart ihre Geltung bewahrt haben, theils nach
dem Erlaß der Verfassung auf dem Wege der Gesetzgebung ins »Leben getreten
sind, in dies Verfassungssystcm einzureihen, so war es doch der bei weitem
schwierigere Theil der Aufgabe des Verfassers, die einzelnen Bestimmungen des
Systems von einem einheitlichen objectiven und wissenschaftlich unanfechtbaren
Standpunkte aus zu erläutern, und den innern Zusammenhang der einzelnen
Theile nachzuweisen, zugleich aber auch auf die innern Widersprüche, die sich
finden, hinzuweisen, und die Mittel zu ihrer Lösung anzugeben.

Die Bedeutung einer derartigen Erläuterung ist einleuchtend. Allerdings
kann die wissenschaftliche Interpretation einer staatsrechtlichen Bestimmung
an sich keinen Anspruch darauf machen, im concreten Falle maßgebend zu sein;
die authentische Interpretation des Verfassungsrechtes ist vielmehr ein Act
der Gesetzgebung; wohl aber wird die authentische Interpretation, wenn sie
anders gewissenhaft, d. h. objectiv verfahren will, sich den Resultaten der wissen¬
schaftlichen Forschung anschließen. Thut sie dies nicht, läßt sie sich vielmehr im
einzelnen Falle von Tendenzen, also etwa Zwcckmäßigkeitsgründen, leiten, so
hört sie auf Interpretation zu sein; sie wird in der That zur selbständigen Ge¬
setzgebung, ohne doch dem Scheine zu entsagen, nur eine Interpretation zu sein.
Durch das Einschlagen eines derartigen Verfahrens wird natürlich, gleichviel
ob die Interpretation im Interesse liberaler oder conservativer Principen ge¬
schieht, jede Stabilität des öffentlichen Rechtes in Frage gestellt. Es ist ver¬
nünftig, ein unzweckmäßiges Gesetz aufzuheben und ein besseres an dessen
Stelle zu setzen; es ist unter allen Umständen staatswidrig, die Schwierigkeiten,
die ein zu Necht bestehender Vcrfassungsparagraph der Verwaltung bietet, dadurch
zu überwinden, daß man der unbequemen Bestimmung einen Sinn unterlegt,
den dieselbe weder ihrem Wortlaute nach, >u>es nach der Stelle, die sie im Ge-
sammtorganismus der Verfassung einnimmt, haben kann.

Somit hat die systematische Behandlung des Verfassungsrechtes uicht blos
für die Wissenschaft, sondern auch für das praktische Staatsleben eine überaus
hohe Bedeutung, indem sie im Voraus die Normen ausstellt, nach denen vor¬
kommenden Falls Differenzen in der Auffassung dieser oder jener Bestimmung
der Verfassung zu beurtheilen und zu entscheiden sind. Ihr Werth ist natürlich
von der Gründlichkeit der Forschung und der Bündigkeit der Beweisführung
abhängig; sie ist wie jede andere wissenschaftliche Leistung der Kritik unter¬
worfen, die sich bekanntlich schon über die erste Auflage des vorliegenden Wer¬
kes mit wenigen Ausnahmen höchst günstig und anerkennend ausgesprochen hat:
wir stehen nicht a», uns für die zweite Auflage diesem Urtheil durchaus an¬
zuschließen.

Der Verfasser beherrscht das ganze slaatsnussenschaftliche Material so Voll¬
ständig, wie wenig andere, so daß in der Beziehung wohl schwerlich eine Lücke


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[0086] stammend auch für die Gegenwart ihre Geltung bewahrt haben, theils nach dem Erlaß der Verfassung auf dem Wege der Gesetzgebung ins »Leben getreten sind, in dies Verfassungssystcm einzureihen, so war es doch der bei weitem schwierigere Theil der Aufgabe des Verfassers, die einzelnen Bestimmungen des Systems von einem einheitlichen objectiven und wissenschaftlich unanfechtbaren Standpunkte aus zu erläutern, und den innern Zusammenhang der einzelnen Theile nachzuweisen, zugleich aber auch auf die innern Widersprüche, die sich finden, hinzuweisen, und die Mittel zu ihrer Lösung anzugeben. Die Bedeutung einer derartigen Erläuterung ist einleuchtend. Allerdings kann die wissenschaftliche Interpretation einer staatsrechtlichen Bestimmung an sich keinen Anspruch darauf machen, im concreten Falle maßgebend zu sein; die authentische Interpretation des Verfassungsrechtes ist vielmehr ein Act der Gesetzgebung; wohl aber wird die authentische Interpretation, wenn sie anders gewissenhaft, d. h. objectiv verfahren will, sich den Resultaten der wissen¬ schaftlichen Forschung anschließen. Thut sie dies nicht, läßt sie sich vielmehr im einzelnen Falle von Tendenzen, also etwa Zwcckmäßigkeitsgründen, leiten, so hört sie auf Interpretation zu sein; sie wird in der That zur selbständigen Ge¬ setzgebung, ohne doch dem Scheine zu entsagen, nur eine Interpretation zu sein. Durch das Einschlagen eines derartigen Verfahrens wird natürlich, gleichviel ob die Interpretation im Interesse liberaler oder conservativer Principen ge¬ schieht, jede Stabilität des öffentlichen Rechtes in Frage gestellt. Es ist ver¬ nünftig, ein unzweckmäßiges Gesetz aufzuheben und ein besseres an dessen Stelle zu setzen; es ist unter allen Umständen staatswidrig, die Schwierigkeiten, die ein zu Necht bestehender Vcrfassungsparagraph der Verwaltung bietet, dadurch zu überwinden, daß man der unbequemen Bestimmung einen Sinn unterlegt, den dieselbe weder ihrem Wortlaute nach, >u>es nach der Stelle, die sie im Ge- sammtorganismus der Verfassung einnimmt, haben kann. Somit hat die systematische Behandlung des Verfassungsrechtes uicht blos für die Wissenschaft, sondern auch für das praktische Staatsleben eine überaus hohe Bedeutung, indem sie im Voraus die Normen ausstellt, nach denen vor¬ kommenden Falls Differenzen in der Auffassung dieser oder jener Bestimmung der Verfassung zu beurtheilen und zu entscheiden sind. Ihr Werth ist natürlich von der Gründlichkeit der Forschung und der Bündigkeit der Beweisführung abhängig; sie ist wie jede andere wissenschaftliche Leistung der Kritik unter¬ worfen, die sich bekanntlich schon über die erste Auflage des vorliegenden Wer¬ kes mit wenigen Ausnahmen höchst günstig und anerkennend ausgesprochen hat: wir stehen nicht a», uns für die zweite Auflage diesem Urtheil durchaus an¬ zuschließen. Der Verfasser beherrscht das ganze slaatsnussenschaftliche Material so Voll¬ ständig, wie wenig andere, so daß in der Beziehung wohl schwerlich eine Lücke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/86>, abgerufen am 28.09.2024.