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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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cipostcln war dem Paulus zunächst die Verwirklichung seines Evangeliums, die
Ausbreitung desselben in einer möglichst großen Anzahl von Gemeinden. Im
Bewußtsein seines vollen Rechts ging er unbekümmert ans Werk, Zwar kam
er drei Jahre nach seiner Bekehrung von Damascus, wohin er nach seinem
Aufenthalte in Arabien zurückgekehrt war, auf 14 Tage nach Jerusalem, um
Petrus, wie er sagte, kennen zu lernen; auch Jakobus, den Bruder des Herrn,
sah er, sonst aber keinen der Apostel, Allein dieser Aufenthalt hat keine Spu¬
ren, weder in seinen Briefen, noch in der Apostelgeschichte zurückgelassen; wir
wissen nicht, wie er sich damals mit Petrus stellte. Nur so viel ist gewiß, daß
seine Auffassung des Christenthums sich durch diese Besprechung nicht im min¬
desten modificirte; er versichert wiederholt und nachdrücklich, daß er sein Evan¬
gelium von keinem Menschen empfangen noch gelernt habe. Wenn damals
noch kein offener Zwiespalt ausbrach, so war es ohne Zweifel weil die Ur-
avostcl die Tragweite des paulinischen Evangeliums noch nicht ermaßen, die
ihnen erst an den späteren Erfolgen des Hcidenapostels aufging.

Von Jerusalem wandte sich Paulus nach Syrien und Cilicien. also zu
den Völkern seines Heimathlandes, bis er Antiochia, die Hauptstadt der Provinz
Syrien, wo bereits aus hellenistisch gebildeten Juden und Heiden eine Gemeinde
entstanden war, zum Ausgangs- und Mittelpunkte seines Wirkens machte.
Eine längere Reise führte ihn von hier über Eypcrn nach Pamphylien, Pisi-
dicn, Lykaonien. Ueberall stiftete er christliche Gemeinden, ohne Zweifel sich
zunächst an seine Volksgenossen wendend, aber die Heiden, bei denen er bald
eine größere Empfänglichkeit fand, mit gleichem Recht aufnehmend und ohne
von ihnen die Beschneidung zu verlangen. Vierzehn Jahre hatte er so in
Kleinasien gewirkt, da erregte seine Wirksamkeit ernste Bedenken bei der Ur-
gemeinde in Jerusalem. Dieser Ausdehnung des Heidencvangcliums, durch
welche der Anspruch des auserwählten Volkes verkürzt zu werden schien, konnte
sie nicht länger unthätig zusehen. Hinter dem Rücken des Apostels wurden
zuerst Versuche gemacht, die Gemüther dem paulinischen Christenthum zu ent¬
fremden. Emissäre schlichen sich ein und verdächtigten den Apostel: es sei ein
betrügliches Vorgeben von ihm, daß man ohne des Gesetzes Werke zu thun
am messtanischen Reich Theil haben könne. Solche Eindringlinge, "falsche
Brüder" von der jerusalcmischen Gemeinde kamen auch nach Antiochia und be¬
lauerten argwöhnisch die Freiheit, die man sich hier erlaubte, indem man über
die Beschneidung und das jüdische Nitualgesetz sich hinwegsetzte. Dies veran¬
laßte Paulus selbst nach Jerusalem zu kommen und hier den älteren Aposteln
gegenüber das Recht seines Heidcnevangeliums zu vertheidigen. Er nahm
seinen Gefährten Barnabas mit und Titus. der selbst ein unbeschnittener Heiden¬
christ war, gleichsam um ihnen eine Probe seines Evangeliums mitzubringen.
Die Verhandlungen scheinen heftig gewesen zu sein, nach der gereizten Stim-


Grmzbotcn IV. 1864. 10

cipostcln war dem Paulus zunächst die Verwirklichung seines Evangeliums, die
Ausbreitung desselben in einer möglichst großen Anzahl von Gemeinden. Im
Bewußtsein seines vollen Rechts ging er unbekümmert ans Werk, Zwar kam
er drei Jahre nach seiner Bekehrung von Damascus, wohin er nach seinem
Aufenthalte in Arabien zurückgekehrt war, auf 14 Tage nach Jerusalem, um
Petrus, wie er sagte, kennen zu lernen; auch Jakobus, den Bruder des Herrn,
sah er, sonst aber keinen der Apostel, Allein dieser Aufenthalt hat keine Spu¬
ren, weder in seinen Briefen, noch in der Apostelgeschichte zurückgelassen; wir
wissen nicht, wie er sich damals mit Petrus stellte. Nur so viel ist gewiß, daß
seine Auffassung des Christenthums sich durch diese Besprechung nicht im min¬
desten modificirte; er versichert wiederholt und nachdrücklich, daß er sein Evan¬
gelium von keinem Menschen empfangen noch gelernt habe. Wenn damals
noch kein offener Zwiespalt ausbrach, so war es ohne Zweifel weil die Ur-
avostcl die Tragweite des paulinischen Evangeliums noch nicht ermaßen, die
ihnen erst an den späteren Erfolgen des Hcidenapostels aufging.

Von Jerusalem wandte sich Paulus nach Syrien und Cilicien. also zu
den Völkern seines Heimathlandes, bis er Antiochia, die Hauptstadt der Provinz
Syrien, wo bereits aus hellenistisch gebildeten Juden und Heiden eine Gemeinde
entstanden war, zum Ausgangs- und Mittelpunkte seines Wirkens machte.
Eine längere Reise führte ihn von hier über Eypcrn nach Pamphylien, Pisi-
dicn, Lykaonien. Ueberall stiftete er christliche Gemeinden, ohne Zweifel sich
zunächst an seine Volksgenossen wendend, aber die Heiden, bei denen er bald
eine größere Empfänglichkeit fand, mit gleichem Recht aufnehmend und ohne
von ihnen die Beschneidung zu verlangen. Vierzehn Jahre hatte er so in
Kleinasien gewirkt, da erregte seine Wirksamkeit ernste Bedenken bei der Ur-
gemeinde in Jerusalem. Dieser Ausdehnung des Heidencvangcliums, durch
welche der Anspruch des auserwählten Volkes verkürzt zu werden schien, konnte
sie nicht länger unthätig zusehen. Hinter dem Rücken des Apostels wurden
zuerst Versuche gemacht, die Gemüther dem paulinischen Christenthum zu ent¬
fremden. Emissäre schlichen sich ein und verdächtigten den Apostel: es sei ein
betrügliches Vorgeben von ihm, daß man ohne des Gesetzes Werke zu thun
am messtanischen Reich Theil haben könne. Solche Eindringlinge, „falsche
Brüder" von der jerusalcmischen Gemeinde kamen auch nach Antiochia und be¬
lauerten argwöhnisch die Freiheit, die man sich hier erlaubte, indem man über
die Beschneidung und das jüdische Nitualgesetz sich hinwegsetzte. Dies veran¬
laßte Paulus selbst nach Jerusalem zu kommen und hier den älteren Aposteln
gegenüber das Recht seines Heidcnevangeliums zu vertheidigen. Er nahm
seinen Gefährten Barnabas mit und Titus. der selbst ein unbeschnittener Heiden¬
christ war, gleichsam um ihnen eine Probe seines Evangeliums mitzubringen.
Die Verhandlungen scheinen heftig gewesen zu sein, nach der gereizten Stim-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/77>, abgerufen am 01.10.2024.