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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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ideale Persönlichkeit Jesu und die Thatsache seines Kreuzestods mit souveräner
Logik in den Mittelpunkt eines kunstvollen Systems, das er aus sich selbst
geschöpft hatte, und aus welches gestützt er zugleich den Heiden das Evan¬
gelium brachte und das Christenthum der Urapostel bekämpfte. Dies war nun
freilich bei ihm ganz individuell und subjectiv, und erst die Kirche hat den
eigenthümlichen Gedankengang, durch welchen sich Paulus für sich selbst mit
dem Christenthum auseinandersetzte, zur Norm des christlichen Glaubens über¬
haupt gemacht. Für ihn persönlich war dieses System die Unterlage, der
Stamm, aus welchem sich seine freie. die Knechtschaft des Gesetzes aufhebende,
Juden- und Heidenwelt mit gleichem Blick umfassende Denkart als die Blüthe
entfaltete. In ihm waren die verschiedensten Geisteskräfte zur lebendigen per¬
sönlichen Einheit verknüpft: schulgelehrte Dialektik und kühnster Idealismus,
innigste Mystik und übergreifendes Freiheitsbewußtsein. Auf ihn kann sich die
christliche Mystik aller Zeiten berufen, wie die abstruseste Dogmatik, aber auch
jeder Kampf für geistige Freiheit darf sich auf ihn berufen, und hat von ihm
jederzeit die schwersten Waffen entlehnt. Wie er selbst über das Judenchristen¬
thum seiner Zeit hinüber Jesus die Hand reichte, so sind die Reformatoren
über die verweltlichte Kirche des Mittelalters auf Paulus zurückgegangen, und
wenn man es als die tiefste Tendenz der religiösen Gährung unserer Zeit be¬
zeichnen darf, auch über Paulus wie über alle späteren dogmatischen Fassungen
des Christenthums auf die ursprüngliche Lehre Jesu selbst zurückzugehen, so hat
auch dieser Kampf ein Recht, sich auf denjenigen Apostel zu berufen, der den
Kvrinthern gegenüber Gott dankte, daß sie auf den Namen Jesu und nicht auf
den Namen Pauli getauft seien.

Paulus^) war 10--15 Jahre jünger als Jesus. Er war in der griechischen
Stadt Tarsus in Cilicien von jüdischen Eltern geboren. Nachdem er das Hand¬
werk eines Zeltwcbers erlernt hatte, ging er nach Jerusalem, um dort jüdische
Theologie zu studiren und sich zum Schriftgelehrten Pharisäer auszubilden. Hier
lernte er die künstliche allegorische Auslegung der Schrift, die wir in seinen
Briefen noch so oft finden, hier warb er ohne Zweifel auch zuerst mit der
alexandrinischen Weisheit bekannt, die gleichfalls ihre Spuren in seinem spä¬
teren System zurückgelassen hat. Hier wurde er der Eiferer für die väterlichen
Ueberlieferungen, als den wir ihn bei der Verfolgung finden, welche sich an
den Namen des Stefanus knüpft. Jesus selbst scheint er nie gesehen zu haben,
und man muß daraus schließen, daß er nicht gleichzeitig mit ihm in Jerusalem
anwesend war. Ein persönlicher Eindruck des Nazareners aus ihn war also
nicht vorhanden; er hielt sich an die einfache Thatsache des Verbrcchertods Jesu:



*) Vergl, außer den bahnbrechenden Arbeiten Baurs besonders die Charakteristik des
Apostels Paulus bei H. Lang, Religiöse Charaktere. Winterthur, 1862.
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ideale Persönlichkeit Jesu und die Thatsache seines Kreuzestods mit souveräner
Logik in den Mittelpunkt eines kunstvollen Systems, das er aus sich selbst
geschöpft hatte, und aus welches gestützt er zugleich den Heiden das Evan¬
gelium brachte und das Christenthum der Urapostel bekämpfte. Dies war nun
freilich bei ihm ganz individuell und subjectiv, und erst die Kirche hat den
eigenthümlichen Gedankengang, durch welchen sich Paulus für sich selbst mit
dem Christenthum auseinandersetzte, zur Norm des christlichen Glaubens über¬
haupt gemacht. Für ihn persönlich war dieses System die Unterlage, der
Stamm, aus welchem sich seine freie. die Knechtschaft des Gesetzes aufhebende,
Juden- und Heidenwelt mit gleichem Blick umfassende Denkart als die Blüthe
entfaltete. In ihm waren die verschiedensten Geisteskräfte zur lebendigen per¬
sönlichen Einheit verknüpft: schulgelehrte Dialektik und kühnster Idealismus,
innigste Mystik und übergreifendes Freiheitsbewußtsein. Auf ihn kann sich die
christliche Mystik aller Zeiten berufen, wie die abstruseste Dogmatik, aber auch
jeder Kampf für geistige Freiheit darf sich auf ihn berufen, und hat von ihm
jederzeit die schwersten Waffen entlehnt. Wie er selbst über das Judenchristen¬
thum seiner Zeit hinüber Jesus die Hand reichte, so sind die Reformatoren
über die verweltlichte Kirche des Mittelalters auf Paulus zurückgegangen, und
wenn man es als die tiefste Tendenz der religiösen Gährung unserer Zeit be¬
zeichnen darf, auch über Paulus wie über alle späteren dogmatischen Fassungen
des Christenthums auf die ursprüngliche Lehre Jesu selbst zurückzugehen, so hat
auch dieser Kampf ein Recht, sich auf denjenigen Apostel zu berufen, der den
Kvrinthern gegenüber Gott dankte, daß sie auf den Namen Jesu und nicht auf
den Namen Pauli getauft seien.

Paulus^) war 10—15 Jahre jünger als Jesus. Er war in der griechischen
Stadt Tarsus in Cilicien von jüdischen Eltern geboren. Nachdem er das Hand¬
werk eines Zeltwcbers erlernt hatte, ging er nach Jerusalem, um dort jüdische
Theologie zu studiren und sich zum Schriftgelehrten Pharisäer auszubilden. Hier
lernte er die künstliche allegorische Auslegung der Schrift, die wir in seinen
Briefen noch so oft finden, hier warb er ohne Zweifel auch zuerst mit der
alexandrinischen Weisheit bekannt, die gleichfalls ihre Spuren in seinem spä¬
teren System zurückgelassen hat. Hier wurde er der Eiferer für die väterlichen
Ueberlieferungen, als den wir ihn bei der Verfolgung finden, welche sich an
den Namen des Stefanus knüpft. Jesus selbst scheint er nie gesehen zu haben,
und man muß daraus schließen, daß er nicht gleichzeitig mit ihm in Jerusalem
anwesend war. Ein persönlicher Eindruck des Nazareners aus ihn war also
nicht vorhanden; er hielt sich an die einfache Thatsache des Verbrcchertods Jesu:



*) Vergl, außer den bahnbrechenden Arbeiten Baurs besonders die Charakteristik des
Apostels Paulus bei H. Lang, Religiöse Charaktere. Winterthur, 1862.
9*
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[0071] ideale Persönlichkeit Jesu und die Thatsache seines Kreuzestods mit souveräner Logik in den Mittelpunkt eines kunstvollen Systems, das er aus sich selbst geschöpft hatte, und aus welches gestützt er zugleich den Heiden das Evan¬ gelium brachte und das Christenthum der Urapostel bekämpfte. Dies war nun freilich bei ihm ganz individuell und subjectiv, und erst die Kirche hat den eigenthümlichen Gedankengang, durch welchen sich Paulus für sich selbst mit dem Christenthum auseinandersetzte, zur Norm des christlichen Glaubens über¬ haupt gemacht. Für ihn persönlich war dieses System die Unterlage, der Stamm, aus welchem sich seine freie. die Knechtschaft des Gesetzes aufhebende, Juden- und Heidenwelt mit gleichem Blick umfassende Denkart als die Blüthe entfaltete. In ihm waren die verschiedensten Geisteskräfte zur lebendigen per¬ sönlichen Einheit verknüpft: schulgelehrte Dialektik und kühnster Idealismus, innigste Mystik und übergreifendes Freiheitsbewußtsein. Auf ihn kann sich die christliche Mystik aller Zeiten berufen, wie die abstruseste Dogmatik, aber auch jeder Kampf für geistige Freiheit darf sich auf ihn berufen, und hat von ihm jederzeit die schwersten Waffen entlehnt. Wie er selbst über das Judenchristen¬ thum seiner Zeit hinüber Jesus die Hand reichte, so sind die Reformatoren über die verweltlichte Kirche des Mittelalters auf Paulus zurückgegangen, und wenn man es als die tiefste Tendenz der religiösen Gährung unserer Zeit be¬ zeichnen darf, auch über Paulus wie über alle späteren dogmatischen Fassungen des Christenthums auf die ursprüngliche Lehre Jesu selbst zurückzugehen, so hat auch dieser Kampf ein Recht, sich auf denjenigen Apostel zu berufen, der den Kvrinthern gegenüber Gott dankte, daß sie auf den Namen Jesu und nicht auf den Namen Pauli getauft seien. Paulus^) war 10—15 Jahre jünger als Jesus. Er war in der griechischen Stadt Tarsus in Cilicien von jüdischen Eltern geboren. Nachdem er das Hand¬ werk eines Zeltwcbers erlernt hatte, ging er nach Jerusalem, um dort jüdische Theologie zu studiren und sich zum Schriftgelehrten Pharisäer auszubilden. Hier lernte er die künstliche allegorische Auslegung der Schrift, die wir in seinen Briefen noch so oft finden, hier warb er ohne Zweifel auch zuerst mit der alexandrinischen Weisheit bekannt, die gleichfalls ihre Spuren in seinem spä¬ teren System zurückgelassen hat. Hier wurde er der Eiferer für die väterlichen Ueberlieferungen, als den wir ihn bei der Verfolgung finden, welche sich an den Namen des Stefanus knüpft. Jesus selbst scheint er nie gesehen zu haben, und man muß daraus schließen, daß er nicht gleichzeitig mit ihm in Jerusalem anwesend war. Ein persönlicher Eindruck des Nazareners aus ihn war also nicht vorhanden; er hielt sich an die einfache Thatsache des Verbrcchertods Jesu: *) Vergl, außer den bahnbrechenden Arbeiten Baurs besonders die Charakteristik des Apostels Paulus bei H. Lang, Religiöse Charaktere. Winterthur, 1862. 9*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/71>, abgerufen am 03.07.2024.