Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Welt gewiesen. Mochten in seinem Geiste die trennenden Schranken der Natio¬
nalitäten auch nicht mehr vorhanden sein, so lag es ihm doch bei seiner kurzen
Wirksamkeit, die zunächst den Volksgenossen galt, ferne, über das Verhältniß
von Juden- und Heidenwelt bestimmte Weisungen zu geben. Er konnte dies der
natürlichen Entwicklung seiner Sache überlassen. Diese mußte in Kurzem zu einer
Entscheidung führen, welche entweder die junge Sekte für immer in die Bande
des Judenthums schlug oder sie für immer davon losriß. Letzteres war die
innere Conscauenz des Gedankens Jesu. Indem dieser aus den letzten Grund
des religiösen Verhaltens des Menschen zurückging, auf das einfache Gefühl
der moralischen Bedürftigkeit, auf das errettende Bewußtsein, in Gott einen
liebenden Vater zu haben, auf die innere Seligkeit einer selbstlosen Bruderliebe,
lag darin im Princip auch die Beseitigung aller Schranken zwischen Judenthum
und Heidenthum: Gott, als Vater gedacht, ist derselbe für alle Menschen ohne
Unterschied der Geburt und Nationalität. Aber erst am geschichtlichen Gegen¬
satze, erst als das Evangelium von den Juden überging auch zu Heiden, konnte
jene Universalität des christlichen Princips zu einer praktischen Frage werden.
Wir sahen, wie von den Hellenisten in der Urgemeinde diese Frage zuerst ge¬
streift wurde; durch die Heidcnmissionen des Paulus, mehr noch durch sein
folgerichtiges Denksystem wurde sie zur Entscheidung gebracht. Paulus hat in¬
sofern nur mit Bewußtsein ausgesprochen, was als Keim schon in den Ideen
Jesu gelegen war. Dennoch, kann man sagen, hätte Jesus nur in sehr be¬
dingter Weise in Paulus seinen Schüler und Fortsetzer anerkennen können. Es
war nicht zufällig, daß Jesus sich besonders an die Niedrigen und Umgekehrten
wandte und zu seinen nächsten Schülern einfache Männer aus dem Volke wählte.
Mit Paulus, dem Pharisäerzögiing, trat ein neues Element in das Christen¬
thum herein, das Element der Wissenschaft der Theologie, der Dogmatik. Die
Religion der Liebe und des Herzens ward, kaum befreit von den Satzungen
der Schriftgelehrten, selbst wieder in dogmatische Fesseln geschlagen. Die rab-
vinische Theologie,'die künstliche Schriftauslegung, die alexandrinische Speculation,
sie nisteten sich alle wieder an aus dem Gebiet, das ihnen hatte entfliehen
wollen. Ohne Frage müssen wir überall auf Seite des Apostels stehen, wo er
mit der Wucht seines überlegenen Geistes die engherzigen Vorurtheile der Juden¬
christen zerstört; der dreifache gewaltige Kampf, welchem der körperschwache,
geistcSmächtige Paulus sein Leben weihte, der dreifache Kampf gegen das
Heidenthum, gegen das Judenthum und gegen das orthodoxe Christenthum,
wie er es vorfand, ist eines der großartigsten Schauspiele aller Zeiten. Aber
wir dürfen nicht vergessen, daß das paulinische Christenthum nicht mehr die
Lehre Jesu ist. Es lag ihm gar nicht daran, mit ängstlicher Treue den Ge¬
danken und Worten Jesu nachzugehen. Was dieser im Leben gethan und ge¬
lehrt hatte, war ihm von untergeordneter Bedeutung. Vielmehr rückte er die


Welt gewiesen. Mochten in seinem Geiste die trennenden Schranken der Natio¬
nalitäten auch nicht mehr vorhanden sein, so lag es ihm doch bei seiner kurzen
Wirksamkeit, die zunächst den Volksgenossen galt, ferne, über das Verhältniß
von Juden- und Heidenwelt bestimmte Weisungen zu geben. Er konnte dies der
natürlichen Entwicklung seiner Sache überlassen. Diese mußte in Kurzem zu einer
Entscheidung führen, welche entweder die junge Sekte für immer in die Bande
des Judenthums schlug oder sie für immer davon losriß. Letzteres war die
innere Conscauenz des Gedankens Jesu. Indem dieser aus den letzten Grund
des religiösen Verhaltens des Menschen zurückging, auf das einfache Gefühl
der moralischen Bedürftigkeit, auf das errettende Bewußtsein, in Gott einen
liebenden Vater zu haben, auf die innere Seligkeit einer selbstlosen Bruderliebe,
lag darin im Princip auch die Beseitigung aller Schranken zwischen Judenthum
und Heidenthum: Gott, als Vater gedacht, ist derselbe für alle Menschen ohne
Unterschied der Geburt und Nationalität. Aber erst am geschichtlichen Gegen¬
satze, erst als das Evangelium von den Juden überging auch zu Heiden, konnte
jene Universalität des christlichen Princips zu einer praktischen Frage werden.
Wir sahen, wie von den Hellenisten in der Urgemeinde diese Frage zuerst ge¬
streift wurde; durch die Heidcnmissionen des Paulus, mehr noch durch sein
folgerichtiges Denksystem wurde sie zur Entscheidung gebracht. Paulus hat in¬
sofern nur mit Bewußtsein ausgesprochen, was als Keim schon in den Ideen
Jesu gelegen war. Dennoch, kann man sagen, hätte Jesus nur in sehr be¬
dingter Weise in Paulus seinen Schüler und Fortsetzer anerkennen können. Es
war nicht zufällig, daß Jesus sich besonders an die Niedrigen und Umgekehrten
wandte und zu seinen nächsten Schülern einfache Männer aus dem Volke wählte.
Mit Paulus, dem Pharisäerzögiing, trat ein neues Element in das Christen¬
thum herein, das Element der Wissenschaft der Theologie, der Dogmatik. Die
Religion der Liebe und des Herzens ward, kaum befreit von den Satzungen
der Schriftgelehrten, selbst wieder in dogmatische Fesseln geschlagen. Die rab-
vinische Theologie,'die künstliche Schriftauslegung, die alexandrinische Speculation,
sie nisteten sich alle wieder an aus dem Gebiet, das ihnen hatte entfliehen
wollen. Ohne Frage müssen wir überall auf Seite des Apostels stehen, wo er
mit der Wucht seines überlegenen Geistes die engherzigen Vorurtheile der Juden¬
christen zerstört; der dreifache gewaltige Kampf, welchem der körperschwache,
geistcSmächtige Paulus sein Leben weihte, der dreifache Kampf gegen das
Heidenthum, gegen das Judenthum und gegen das orthodoxe Christenthum,
wie er es vorfand, ist eines der großartigsten Schauspiele aller Zeiten. Aber
wir dürfen nicht vergessen, daß das paulinische Christenthum nicht mehr die
Lehre Jesu ist. Es lag ihm gar nicht daran, mit ängstlicher Treue den Ge¬
danken und Worten Jesu nachzugehen. Was dieser im Leben gethan und ge¬
lehrt hatte, war ihm von untergeordneter Bedeutung. Vielmehr rückte er die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189694"/>
          <p xml:id="ID_262" prev="#ID_261" next="#ID_263"> Welt gewiesen. Mochten in seinem Geiste die trennenden Schranken der Natio¬<lb/>
nalitäten auch nicht mehr vorhanden sein, so lag es ihm doch bei seiner kurzen<lb/>
Wirksamkeit, die zunächst den Volksgenossen galt, ferne, über das Verhältniß<lb/>
von Juden- und Heidenwelt bestimmte Weisungen zu geben. Er konnte dies der<lb/>
natürlichen Entwicklung seiner Sache überlassen. Diese mußte in Kurzem zu einer<lb/>
Entscheidung führen, welche entweder die junge Sekte für immer in die Bande<lb/>
des Judenthums schlug oder sie für immer davon losriß. Letzteres war die<lb/>
innere Conscauenz des Gedankens Jesu. Indem dieser aus den letzten Grund<lb/>
des religiösen Verhaltens des Menschen zurückging, auf das einfache Gefühl<lb/>
der moralischen Bedürftigkeit, auf das errettende Bewußtsein, in Gott einen<lb/>
liebenden Vater zu haben, auf die innere Seligkeit einer selbstlosen Bruderliebe,<lb/>
lag darin im Princip auch die Beseitigung aller Schranken zwischen Judenthum<lb/>
und Heidenthum: Gott, als Vater gedacht, ist derselbe für alle Menschen ohne<lb/>
Unterschied der Geburt und Nationalität. Aber erst am geschichtlichen Gegen¬<lb/>
satze, erst als das Evangelium von den Juden überging auch zu Heiden, konnte<lb/>
jene Universalität des christlichen Princips zu einer praktischen Frage werden.<lb/>
Wir sahen, wie von den Hellenisten in der Urgemeinde diese Frage zuerst ge¬<lb/>
streift wurde; durch die Heidcnmissionen des Paulus, mehr noch durch sein<lb/>
folgerichtiges Denksystem wurde sie zur Entscheidung gebracht. Paulus hat in¬<lb/>
sofern nur mit Bewußtsein ausgesprochen, was als Keim schon in den Ideen<lb/>
Jesu gelegen war. Dennoch, kann man sagen, hätte Jesus nur in sehr be¬<lb/>
dingter Weise in Paulus seinen Schüler und Fortsetzer anerkennen können. Es<lb/>
war nicht zufällig, daß Jesus sich besonders an die Niedrigen und Umgekehrten<lb/>
wandte und zu seinen nächsten Schülern einfache Männer aus dem Volke wählte.<lb/>
Mit Paulus, dem Pharisäerzögiing, trat ein neues Element in das Christen¬<lb/>
thum herein, das Element der Wissenschaft der Theologie, der Dogmatik. Die<lb/>
Religion der Liebe und des Herzens ward, kaum befreit von den Satzungen<lb/>
der Schriftgelehrten, selbst wieder in dogmatische Fesseln geschlagen. Die rab-<lb/>
vinische Theologie,'die künstliche Schriftauslegung, die alexandrinische Speculation,<lb/>
sie nisteten sich alle wieder an aus dem Gebiet, das ihnen hatte entfliehen<lb/>
wollen. Ohne Frage müssen wir überall auf Seite des Apostels stehen, wo er<lb/>
mit der Wucht seines überlegenen Geistes die engherzigen Vorurtheile der Juden¬<lb/>
christen zerstört; der dreifache gewaltige Kampf, welchem der körperschwache,<lb/>
geistcSmächtige Paulus sein Leben weihte, der dreifache Kampf gegen das<lb/>
Heidenthum, gegen das Judenthum und gegen das orthodoxe Christenthum,<lb/>
wie er es vorfand, ist eines der großartigsten Schauspiele aller Zeiten. Aber<lb/>
wir dürfen nicht vergessen, daß das paulinische Christenthum nicht mehr die<lb/>
Lehre Jesu ist. Es lag ihm gar nicht daran, mit ängstlicher Treue den Ge¬<lb/>
danken und Worten Jesu nachzugehen. Was dieser im Leben gethan und ge¬<lb/>
lehrt hatte, war ihm von untergeordneter Bedeutung. Vielmehr rückte er die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Welt gewiesen. Mochten in seinem Geiste die trennenden Schranken der Natio¬ nalitäten auch nicht mehr vorhanden sein, so lag es ihm doch bei seiner kurzen Wirksamkeit, die zunächst den Volksgenossen galt, ferne, über das Verhältniß von Juden- und Heidenwelt bestimmte Weisungen zu geben. Er konnte dies der natürlichen Entwicklung seiner Sache überlassen. Diese mußte in Kurzem zu einer Entscheidung führen, welche entweder die junge Sekte für immer in die Bande des Judenthums schlug oder sie für immer davon losriß. Letzteres war die innere Conscauenz des Gedankens Jesu. Indem dieser aus den letzten Grund des religiösen Verhaltens des Menschen zurückging, auf das einfache Gefühl der moralischen Bedürftigkeit, auf das errettende Bewußtsein, in Gott einen liebenden Vater zu haben, auf die innere Seligkeit einer selbstlosen Bruderliebe, lag darin im Princip auch die Beseitigung aller Schranken zwischen Judenthum und Heidenthum: Gott, als Vater gedacht, ist derselbe für alle Menschen ohne Unterschied der Geburt und Nationalität. Aber erst am geschichtlichen Gegen¬ satze, erst als das Evangelium von den Juden überging auch zu Heiden, konnte jene Universalität des christlichen Princips zu einer praktischen Frage werden. Wir sahen, wie von den Hellenisten in der Urgemeinde diese Frage zuerst ge¬ streift wurde; durch die Heidcnmissionen des Paulus, mehr noch durch sein folgerichtiges Denksystem wurde sie zur Entscheidung gebracht. Paulus hat in¬ sofern nur mit Bewußtsein ausgesprochen, was als Keim schon in den Ideen Jesu gelegen war. Dennoch, kann man sagen, hätte Jesus nur in sehr be¬ dingter Weise in Paulus seinen Schüler und Fortsetzer anerkennen können. Es war nicht zufällig, daß Jesus sich besonders an die Niedrigen und Umgekehrten wandte und zu seinen nächsten Schülern einfache Männer aus dem Volke wählte. Mit Paulus, dem Pharisäerzögiing, trat ein neues Element in das Christen¬ thum herein, das Element der Wissenschaft der Theologie, der Dogmatik. Die Religion der Liebe und des Herzens ward, kaum befreit von den Satzungen der Schriftgelehrten, selbst wieder in dogmatische Fesseln geschlagen. Die rab- vinische Theologie,'die künstliche Schriftauslegung, die alexandrinische Speculation, sie nisteten sich alle wieder an aus dem Gebiet, das ihnen hatte entfliehen wollen. Ohne Frage müssen wir überall auf Seite des Apostels stehen, wo er mit der Wucht seines überlegenen Geistes die engherzigen Vorurtheile der Juden¬ christen zerstört; der dreifache gewaltige Kampf, welchem der körperschwache, geistcSmächtige Paulus sein Leben weihte, der dreifache Kampf gegen das Heidenthum, gegen das Judenthum und gegen das orthodoxe Christenthum, wie er es vorfand, ist eines der großartigsten Schauspiele aller Zeiten. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß das paulinische Christenthum nicht mehr die Lehre Jesu ist. Es lag ihm gar nicht daran, mit ängstlicher Treue den Ge¬ danken und Worten Jesu nachzugehen. Was dieser im Leben gethan und ge¬ lehrt hatte, war ihm von untergeordneter Bedeutung. Vielmehr rückte er die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/70>, abgerufen am 01.07.2024.