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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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neuern sind, seine Zuflucht nehmen. Comte befand sich juristisch in der Lage
eines preußischen Schankwirths, der mit jedem Neujahr für die Verlängerung
seiner Concession zittern muß, falls er etwa einen anderen Spiritus colportirt,
als welchen die Polizeiverwaltung für unschädlich hält. Unter dem Druck
solcher Verhältnisse, bei deren Darstellung der Humor eigentlich schweigen sollte,
arbeitete Comte rüstig und schnell an seinem umfassenden Werke. Selbst eine
Gehirnkrankheit, die in die Zeit der Ausarbeitung siel, vermochte die Förderung
seines Unternehmens nur zu vertagen, aber nicht für immer abzubrechen. Der
vom Schicksal schwer angegriffene Denker gewann seine alte Arbeitskraft wieder
und vollendete seinen cours cke MilosvrMe pciÄtivs im Anfang der vierziger
Jahre. -- Wie man aus diesen Andeutungen sieht, war sein Leben ein rein
literarisches und, was für uns hier sehr wichtig sein muß, nicht im Geringsten
durch irgendeine politische Parteiverknüpfung beeinflußt. Nur einmal bemühte
er sich bei Guizot um die Errichtung eines Lchrstuhls der positiven Philosophie.
Wenn er also eine Kritik des Constitutionalismus, wie er ihn aus der Restau¬
ration und dem Julikvnigthum kannte, gegeben hat, so können wir derselben
wenigstens die Bedeutung einer rein wissenschaftlichen Ansicht zugestehen und
haben nicht den geringsten Grund, hinter der allerdings einschneidenden und
sehr einseitigen Polemik den enttäuschten Parteimann und den gekränkten Poli¬
tiker zu wittern. Wenn je das Kunststück, unter äußerlich drückenden Verhält¬
nissen geistig unabhängig zu bleiben, mit Virtuosität ausgeführt worden ist, so
ist es von Seiten Comtes geschehen. Die Kühnheit der Gedanken, durch welche
sich das Werk unseres Denkers auszeichnet, mußte in Frankreich, wenigstens
was die metaphysische Philosophie anbetrifft, noch weit mehr Anstoß erregen,
als in Deutschland. Bei uns hat die kantische Philosophie mit mancherlei aus¬
geräumt, was den Franzosen, Engländern und Amerikanern noch als wissen¬
schaftlich currente Münze gilt. Die Franzosen haben ihre oberflächliche Kühn¬
heit, die sie im achtzehnten Jahrhundert entfalteten, ebenso leichtfertig wieder
ausgegeben und man begegnet in den außerdeutschen Literaturen selbst in den
besten und neuesten Werken noch immer einer Sprache und Vorstellungsart, die
wenig von der metaphysischen Kritik zu wissen scheint. Comtes Schriften sind
nun frei wie von allen so auch von diesen metaphysischen Vorstellungen, und
schon dieser Umstand reichte hin, den Repetenten der polytechnischen Schule in
Gefahr zu bringen. Vielleicht verdankt er aber gerade der extremen Haltung
seiner Gedanken das, was andere nur durch Kompromisse zu erreichen Pflegen.
Gerade weil er sich zu weit von den gegebenen Verhältnissen entfernte und
weil er auf jede Metaphysik verzichtete, vermied er ohne sein Zuthun jede
wirkliche Berührung mit den bestimmteren religiösen und metaphysischen An¬
sichten und erregte auch rücksichtlich der Politik mit seinen über den Constitu¬
tionalismus Hinausgreisenden und dabei doch nicht den gewöhnlichen republi-


neuern sind, seine Zuflucht nehmen. Comte befand sich juristisch in der Lage
eines preußischen Schankwirths, der mit jedem Neujahr für die Verlängerung
seiner Concession zittern muß, falls er etwa einen anderen Spiritus colportirt,
als welchen die Polizeiverwaltung für unschädlich hält. Unter dem Druck
solcher Verhältnisse, bei deren Darstellung der Humor eigentlich schweigen sollte,
arbeitete Comte rüstig und schnell an seinem umfassenden Werke. Selbst eine
Gehirnkrankheit, die in die Zeit der Ausarbeitung siel, vermochte die Förderung
seines Unternehmens nur zu vertagen, aber nicht für immer abzubrechen. Der
vom Schicksal schwer angegriffene Denker gewann seine alte Arbeitskraft wieder
und vollendete seinen cours cke MilosvrMe pciÄtivs im Anfang der vierziger
Jahre. — Wie man aus diesen Andeutungen sieht, war sein Leben ein rein
literarisches und, was für uns hier sehr wichtig sein muß, nicht im Geringsten
durch irgendeine politische Parteiverknüpfung beeinflußt. Nur einmal bemühte
er sich bei Guizot um die Errichtung eines Lchrstuhls der positiven Philosophie.
Wenn er also eine Kritik des Constitutionalismus, wie er ihn aus der Restau¬
ration und dem Julikvnigthum kannte, gegeben hat, so können wir derselben
wenigstens die Bedeutung einer rein wissenschaftlichen Ansicht zugestehen und
haben nicht den geringsten Grund, hinter der allerdings einschneidenden und
sehr einseitigen Polemik den enttäuschten Parteimann und den gekränkten Poli¬
tiker zu wittern. Wenn je das Kunststück, unter äußerlich drückenden Verhält¬
nissen geistig unabhängig zu bleiben, mit Virtuosität ausgeführt worden ist, so
ist es von Seiten Comtes geschehen. Die Kühnheit der Gedanken, durch welche
sich das Werk unseres Denkers auszeichnet, mußte in Frankreich, wenigstens
was die metaphysische Philosophie anbetrifft, noch weit mehr Anstoß erregen,
als in Deutschland. Bei uns hat die kantische Philosophie mit mancherlei aus¬
geräumt, was den Franzosen, Engländern und Amerikanern noch als wissen¬
schaftlich currente Münze gilt. Die Franzosen haben ihre oberflächliche Kühn¬
heit, die sie im achtzehnten Jahrhundert entfalteten, ebenso leichtfertig wieder
ausgegeben und man begegnet in den außerdeutschen Literaturen selbst in den
besten und neuesten Werken noch immer einer Sprache und Vorstellungsart, die
wenig von der metaphysischen Kritik zu wissen scheint. Comtes Schriften sind
nun frei wie von allen so auch von diesen metaphysischen Vorstellungen, und
schon dieser Umstand reichte hin, den Repetenten der polytechnischen Schule in
Gefahr zu bringen. Vielleicht verdankt er aber gerade der extremen Haltung
seiner Gedanken das, was andere nur durch Kompromisse zu erreichen Pflegen.
Gerade weil er sich zu weit von den gegebenen Verhältnissen entfernte und
weil er auf jede Metaphysik verzichtete, vermied er ohne sein Zuthun jede
wirkliche Berührung mit den bestimmteren religiösen und metaphysischen An¬
sichten und erregte auch rücksichtlich der Politik mit seinen über den Constitu¬
tionalismus Hinausgreisenden und dabei doch nicht den gewöhnlichen republi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/268>, abgerufen am 25.08.2024.