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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Krisis der Fabrikdistricte ehrenvoll überstanden habe. "Man sann jedoch die
Verdienste des Armenamtes vollkommen anerkennen, ohne zu verkennen, daß
die Fortdauer der jetzigen Verfassung die Grundlagen des englischen Ge¬
meindewesens untergräbt." Denselben Tadel spricht der Versasser auch über
die Mehrzahl der übrigen neuen Gesetze aus, welche die allgemeine Wohlfahrt
betreffen; dahin gehören z. B. Gesetze über Äau-und Gesundheitspolizei, öffent¬
liche Wege, Brücken. Für die meisten derselben ist bezeichnend, daß sie die
Thätigkeit der Communen aus ein Wahlrecht für Anfsichtscommissionen be¬
schränken, daß die Verwaltung besoldeten Beamten überlassen wird und daß
die höchste Entscheidung in die Hände der Münster gelegt ist. Eine Annäherung
.ein continentale Vcrwaltungsmaximen ist in allen diesen Gesetzen unverkennbar.
Daran hat man bisher in England wenig Anstoß genommen; im Gegentheil
standen die neuen Einrichtungen, die, wie Gneist mehrfach hervorhebt, aus einer
Anwendung des Princips der Arbeitstheilung auf den Staat hervorgegangen
sind, mit den herrschenden Ideen und Neigungen durchaus in Einklang. Auch
empfahlen sich die Gesetze meist durch ihre günstigen Wirkungen. Und wenn
der Werth eines Staatswesens nach den unmittelbaren Leistungen der Staats-
maschine beurtheilt wird, so läßt sich auch gar nicht bestreik", daß eine ener¬
gisch geleitete und dabei aufgeklärte büreaukratische Centralisation in vielen Be¬
ziehungen den Preis davon trägt. Eine andere Frage ist aber, ob diese
Staatsform der sittlichen Kraft und Selbständigkeit der Einzelnen und Gemein¬
den, auf der doch schließlich die Gesundheit und Macht der Staaten beruht,
günstig ist. Diese Frage ist allerdings unbedingt zu verneinen und zumal der
Engländer kann, sollte man denken, über die Beantwortung derselben gar nicht
in Zweifel sein. Wenn dennoch die augenscheinlichsten Abweichungen von den
alten bewährten Principien sich des Beifalls der öffentlichen Meinung erfreuen,
so kann die Ursache dieser ausfallenden Erscheinung nur darin liegen, daß die
alten Organe des Staates die Kraft verloren haben, den dringendsten An¬
forderungen der Gesellschaft, über die kein Staat sich' hinwegsetzen kann, gerecht
zu werden. Es müssen seit Jahren Pflichten versäumt worden sein, deren rasche
und ungesäumte Erfüllung auf den bisher eingeschlagenen normalen Wegen
nicht möglich erschien.

> Und in der That läßt sich nicht läugnen, daß dies der Fall ist. Die
gesellschaftlichen Zustände hatten sich so rasch entwickelt, daß der Staat hinter
ihrem Fortschritt zurückgeblieben war. Staat und Gesellschaft deckten sich nicht
mehr. Die englische Aristokratie hat, zum Theil durch die Ungunst der Ver¬
hältnisse gezwungen (wir erinnern mir daran, daß durch die Revolutionskriege
Pitts große Reformpläne durchkreuzt wurden), zum Theil durch eigene Schuld
den richtigen Moment zur Wiederherstellung der gestörten Harmonie verscinint.
Sehr wahr bemerkt Gneist: "Eine regierende Classe überzeugt sich nicht leicht


Krisis der Fabrikdistricte ehrenvoll überstanden habe. „Man sann jedoch die
Verdienste des Armenamtes vollkommen anerkennen, ohne zu verkennen, daß
die Fortdauer der jetzigen Verfassung die Grundlagen des englischen Ge¬
meindewesens untergräbt." Denselben Tadel spricht der Versasser auch über
die Mehrzahl der übrigen neuen Gesetze aus, welche die allgemeine Wohlfahrt
betreffen; dahin gehören z. B. Gesetze über Äau-und Gesundheitspolizei, öffent¬
liche Wege, Brücken. Für die meisten derselben ist bezeichnend, daß sie die
Thätigkeit der Communen aus ein Wahlrecht für Anfsichtscommissionen be¬
schränken, daß die Verwaltung besoldeten Beamten überlassen wird und daß
die höchste Entscheidung in die Hände der Münster gelegt ist. Eine Annäherung
.ein continentale Vcrwaltungsmaximen ist in allen diesen Gesetzen unverkennbar.
Daran hat man bisher in England wenig Anstoß genommen; im Gegentheil
standen die neuen Einrichtungen, die, wie Gneist mehrfach hervorhebt, aus einer
Anwendung des Princips der Arbeitstheilung auf den Staat hervorgegangen
sind, mit den herrschenden Ideen und Neigungen durchaus in Einklang. Auch
empfahlen sich die Gesetze meist durch ihre günstigen Wirkungen. Und wenn
der Werth eines Staatswesens nach den unmittelbaren Leistungen der Staats-
maschine beurtheilt wird, so läßt sich auch gar nicht bestreik», daß eine ener¬
gisch geleitete und dabei aufgeklärte büreaukratische Centralisation in vielen Be¬
ziehungen den Preis davon trägt. Eine andere Frage ist aber, ob diese
Staatsform der sittlichen Kraft und Selbständigkeit der Einzelnen und Gemein¬
den, auf der doch schließlich die Gesundheit und Macht der Staaten beruht,
günstig ist. Diese Frage ist allerdings unbedingt zu verneinen und zumal der
Engländer kann, sollte man denken, über die Beantwortung derselben gar nicht
in Zweifel sein. Wenn dennoch die augenscheinlichsten Abweichungen von den
alten bewährten Principien sich des Beifalls der öffentlichen Meinung erfreuen,
so kann die Ursache dieser ausfallenden Erscheinung nur darin liegen, daß die
alten Organe des Staates die Kraft verloren haben, den dringendsten An¬
forderungen der Gesellschaft, über die kein Staat sich' hinwegsetzen kann, gerecht
zu werden. Es müssen seit Jahren Pflichten versäumt worden sein, deren rasche
und ungesäumte Erfüllung auf den bisher eingeschlagenen normalen Wegen
nicht möglich erschien.

> Und in der That läßt sich nicht läugnen, daß dies der Fall ist. Die
gesellschaftlichen Zustände hatten sich so rasch entwickelt, daß der Staat hinter
ihrem Fortschritt zurückgeblieben war. Staat und Gesellschaft deckten sich nicht
mehr. Die englische Aristokratie hat, zum Theil durch die Ungunst der Ver¬
hältnisse gezwungen (wir erinnern mir daran, daß durch die Revolutionskriege
Pitts große Reformpläne durchkreuzt wurden), zum Theil durch eigene Schuld
den richtigen Moment zur Wiederherstellung der gestörten Harmonie verscinint.
Sehr wahr bemerkt Gneist: „Eine regierende Classe überzeugt sich nicht leicht


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[0188] Krisis der Fabrikdistricte ehrenvoll überstanden habe. „Man sann jedoch die Verdienste des Armenamtes vollkommen anerkennen, ohne zu verkennen, daß die Fortdauer der jetzigen Verfassung die Grundlagen des englischen Ge¬ meindewesens untergräbt." Denselben Tadel spricht der Versasser auch über die Mehrzahl der übrigen neuen Gesetze aus, welche die allgemeine Wohlfahrt betreffen; dahin gehören z. B. Gesetze über Äau-und Gesundheitspolizei, öffent¬ liche Wege, Brücken. Für die meisten derselben ist bezeichnend, daß sie die Thätigkeit der Communen aus ein Wahlrecht für Anfsichtscommissionen be¬ schränken, daß die Verwaltung besoldeten Beamten überlassen wird und daß die höchste Entscheidung in die Hände der Münster gelegt ist. Eine Annäherung .ein continentale Vcrwaltungsmaximen ist in allen diesen Gesetzen unverkennbar. Daran hat man bisher in England wenig Anstoß genommen; im Gegentheil standen die neuen Einrichtungen, die, wie Gneist mehrfach hervorhebt, aus einer Anwendung des Princips der Arbeitstheilung auf den Staat hervorgegangen sind, mit den herrschenden Ideen und Neigungen durchaus in Einklang. Auch empfahlen sich die Gesetze meist durch ihre günstigen Wirkungen. Und wenn der Werth eines Staatswesens nach den unmittelbaren Leistungen der Staats- maschine beurtheilt wird, so läßt sich auch gar nicht bestreik», daß eine ener¬ gisch geleitete und dabei aufgeklärte büreaukratische Centralisation in vielen Be¬ ziehungen den Preis davon trägt. Eine andere Frage ist aber, ob diese Staatsform der sittlichen Kraft und Selbständigkeit der Einzelnen und Gemein¬ den, auf der doch schließlich die Gesundheit und Macht der Staaten beruht, günstig ist. Diese Frage ist allerdings unbedingt zu verneinen und zumal der Engländer kann, sollte man denken, über die Beantwortung derselben gar nicht in Zweifel sein. Wenn dennoch die augenscheinlichsten Abweichungen von den alten bewährten Principien sich des Beifalls der öffentlichen Meinung erfreuen, so kann die Ursache dieser ausfallenden Erscheinung nur darin liegen, daß die alten Organe des Staates die Kraft verloren haben, den dringendsten An¬ forderungen der Gesellschaft, über die kein Staat sich' hinwegsetzen kann, gerecht zu werden. Es müssen seit Jahren Pflichten versäumt worden sein, deren rasche und ungesäumte Erfüllung auf den bisher eingeschlagenen normalen Wegen nicht möglich erschien. > Und in der That läßt sich nicht läugnen, daß dies der Fall ist. Die gesellschaftlichen Zustände hatten sich so rasch entwickelt, daß der Staat hinter ihrem Fortschritt zurückgeblieben war. Staat und Gesellschaft deckten sich nicht mehr. Die englische Aristokratie hat, zum Theil durch die Ungunst der Ver¬ hältnisse gezwungen (wir erinnern mir daran, daß durch die Revolutionskriege Pitts große Reformpläne durchkreuzt wurden), zum Theil durch eigene Schuld den richtigen Moment zur Wiederherstellung der gestörten Harmonie verscinint. Sehr wahr bemerkt Gneist: „Eine regierende Classe überzeugt sich nicht leicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/188>, abgerufen am 03.07.2024.