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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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möglichst von dem Jnstanzenzwange befreite, unter allen Umständen aber an
dem Grundsätze festhielt, daß, wo friedcnsrichterliche Entscheidungen einer Ver¬
besserung bedürfen sollten, nicht das Cabinet, sondern die Reichsgerichte die
höchste Instanz zu bilden hätten.

So wurde die jurisdictionelle Stellung der Friedensrichter aufrecht erhalten
und man hütete sich wohl, sie zu politischen Organen des jeweiligen Mi¬
nisteriums zu machen, weil man fühlte, daß man damit entweder scheitern
oder die Grundlagen des ganzen Staatsgebäudes zerstören würde. Die herr¬
schende Classe in England ist in der Wahl ihrer Mittel in anderen Dingen,
namentlich wo es sich um Parlamentswahlen handelt, weder besonders gewissen¬
haft noch rücksichtsvoll. Korruption der Wähler, Nepotismus und Coterieein-
flüsse bei Besetzung der hohen Aemter machen sich in einer Weise geltend, die
in Deutschland unerhört ist. Aber die schweren und verantwnrtlichen hohen
Ehrenämter des Selfgovernment werden in ehrenwerther Weise verwaltet, und
wo Mißbräuche sich, einfinden, bemüht man sich sie abzustellen. Denn noch
hat die Aristokratie das Gefühl nicht verloren, daß lediglich auf der Gewissen¬
haftigkeit, Thätigkeit und Uneigennützigi'eit ihrer Verwaltung im Einzelnen
ihre Popularität und der Bestand ihrer Macht im Großen beruht.

Ob die Umgestaltungen der neuesten Zeit daraus berechnet sind, diesen
altenglischen Geist zu erhalten, ob sie durchaus den Grundsätzen des Self-
governments entsprechen, ob sie in völlig correcter Weise die Aufgabe lösen,
die gestörte Harmonie zwischen den socialen Zuständen und den politischen In¬
stitutionen wieder herzustellen, darüber wird uns ein Blick aus die gegenwärtigen
Zustände Englands Aufklärung geben.

Die Mißverhältnisse, welche schon seit längerer Zeit dringend Abhilfe er¬
heischten und nach langem Kampfe den regierenden Classen eine Reihe von
Reformmaßregeln abnölhigcen, hatten besonders in den drückenden Verhältnissen
der niedern Classen und in dem sehr unbillig vertheilten Wahlrecht zum Par'
lauert ihren Grund. Die ungenügende Gestaltung des Wahlrechts hängt aber
aufs Engste zusammen mit den großen Mängeln des Städtewesens. --
von jeher die schwächste Seite der englischen Verfassung --, an dessen Ver-
bildung, Unverstand und schiefer politischer Tendenz sie gleichmäßig Schuld
tragen. Es ist merkwürdig, daß der große Sinn, in dem die organisirende
Thätigkeit des Staates im Uebrigen vor sich gegangen ist. auf dem Gebiete
des Städtewesens oft den kleinlichsten Rücksichten Platz gemacht hat. Es war
allerdings schwer, den Weg zu finden, um die gesellschaftlich verwickelten städ¬
tischen Verhältnisse mit Festhaltung des für die ländlichen Communalverbände
bewährten Grundsatzes der Harmonie von Pflichten und Rechten dem Staats-
organismus einzuordnen. Es war um so schwerer, als bei den höhern städti¬
schen Classen sich nicht dieselbe Neigung, auch wohl nicht dieselbe Muße


möglichst von dem Jnstanzenzwange befreite, unter allen Umständen aber an
dem Grundsätze festhielt, daß, wo friedcnsrichterliche Entscheidungen einer Ver¬
besserung bedürfen sollten, nicht das Cabinet, sondern die Reichsgerichte die
höchste Instanz zu bilden hätten.

So wurde die jurisdictionelle Stellung der Friedensrichter aufrecht erhalten
und man hütete sich wohl, sie zu politischen Organen des jeweiligen Mi¬
nisteriums zu machen, weil man fühlte, daß man damit entweder scheitern
oder die Grundlagen des ganzen Staatsgebäudes zerstören würde. Die herr¬
schende Classe in England ist in der Wahl ihrer Mittel in anderen Dingen,
namentlich wo es sich um Parlamentswahlen handelt, weder besonders gewissen¬
haft noch rücksichtsvoll. Korruption der Wähler, Nepotismus und Coterieein-
flüsse bei Besetzung der hohen Aemter machen sich in einer Weise geltend, die
in Deutschland unerhört ist. Aber die schweren und verantwnrtlichen hohen
Ehrenämter des Selfgovernment werden in ehrenwerther Weise verwaltet, und
wo Mißbräuche sich, einfinden, bemüht man sich sie abzustellen. Denn noch
hat die Aristokratie das Gefühl nicht verloren, daß lediglich auf der Gewissen¬
haftigkeit, Thätigkeit und Uneigennützigi'eit ihrer Verwaltung im Einzelnen
ihre Popularität und der Bestand ihrer Macht im Großen beruht.

Ob die Umgestaltungen der neuesten Zeit daraus berechnet sind, diesen
altenglischen Geist zu erhalten, ob sie durchaus den Grundsätzen des Self-
governments entsprechen, ob sie in völlig correcter Weise die Aufgabe lösen,
die gestörte Harmonie zwischen den socialen Zuständen und den politischen In¬
stitutionen wieder herzustellen, darüber wird uns ein Blick aus die gegenwärtigen
Zustände Englands Aufklärung geben.

Die Mißverhältnisse, welche schon seit längerer Zeit dringend Abhilfe er¬
heischten und nach langem Kampfe den regierenden Classen eine Reihe von
Reformmaßregeln abnölhigcen, hatten besonders in den drückenden Verhältnissen
der niedern Classen und in dem sehr unbillig vertheilten Wahlrecht zum Par'
lauert ihren Grund. Die ungenügende Gestaltung des Wahlrechts hängt aber
aufs Engste zusammen mit den großen Mängeln des Städtewesens. —
von jeher die schwächste Seite der englischen Verfassung —, an dessen Ver-
bildung, Unverstand und schiefer politischer Tendenz sie gleichmäßig Schuld
tragen. Es ist merkwürdig, daß der große Sinn, in dem die organisirende
Thätigkeit des Staates im Uebrigen vor sich gegangen ist. auf dem Gebiete
des Städtewesens oft den kleinlichsten Rücksichten Platz gemacht hat. Es war
allerdings schwer, den Weg zu finden, um die gesellschaftlich verwickelten städ¬
tischen Verhältnisse mit Festhaltung des für die ländlichen Communalverbände
bewährten Grundsatzes der Harmonie von Pflichten und Rechten dem Staats-
organismus einzuordnen. Es war um so schwerer, als bei den höhern städti¬
schen Classen sich nicht dieselbe Neigung, auch wohl nicht dieselbe Muße


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/178>, abgerufen am 03.07.2024.