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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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cher die einzelnen Gründe, desto mehr empfindet man das Bedürfniß, viele
Gründe ins Treffen zu führen. Und dann müßte es mit Wunderdingen zu¬
gehen, wenn die Blitzschläge aus der Retorte des Herrn Pernice eine andere
Wirkung aus das durch die deutsche Wissenschaft seit dreißig Jahren geschaffne
Rechtsbewußtsein haben sollten, als kalte Schläge oder, wenn man will, als
Theaterblitze. Auch die hundert Folioseiten des Urkundenbuchs stören unsre Ge-
müthsruhe nicht wesentlich. Die Schleswig-holsteinische Staatserbfolge ist das
Product der Geschichte der Herzogthümer. Die Thatsachen dieser Geschichte sind
allgemein bekannt. Urkunden sind nur Mittel zur Feststellung von Thatsachen;
wo letztere schon feststehen, sind erstere nicht mehr nöthig für die Fällung eines
gerechten Urtheils. Die Rechtsfrage ist seit Monaten und länger schon entschie¬
den, und ein halb Dutzend alter Lehnbriefe werden daran nichts ändern.

Inzwischen ist, als Präludium gleichsam zu dem Hauptvortrag, eine Denk¬
schrift erschienen, die, von der rechtlichen Seite des Schleswig-holsteinischen
Erbfolgestreites absehend, das Verhalten des Großherzogs Peter in der Sache
dem deutschen Pulicum vom politischen Standpunkt aus plausibel zu machen
bestrebt ist und namentlich die Befürchtung zu widerlegen sucht, die Herzog¬
thümer würden unter oldenburgischen Scepter nicht viel mehr als eine olden¬
burgische Satrapie sein. Im Folgenden begleiten wir die Hauptsätze der Schrift
mit einigen Glossen, aus denen hervorgehen wird, daß man den Jnstinct des
Volkes und die Sachkenntniß seiner Führer in der Presse mit solcher Escamo-
tage nicht berückt.

"Man hat," sagt der Verfasser der Denkschrift, "die Cession von Kissingen
als die Brücke bezeichnet, durch welche die Rückkehr zur Personalunion zwischen
den Herzogthümern und Dänemark ermöglicht werden soll. Aber die Annahme,
daß der Großherzog sich dazu verstehen werde, einer Wiederherstellung der Per¬
sonalunion die Hand zu bieten, ist doch wohl seinen Antecedentien gegenüber
eine mehr als gewagte. Hätte der Großherzog den Thron eines dänischen Ge-
sammtstaates einnehmen wollen, so stand dies, wie bekannt, in seinem Willen
zu einer Zeit, als die Personalunion mit Dänemark jedenfalls noch nicht in
dem Maße eine Unmöglichkeit geworden war, wie heute; aber er lehnte da¬
mals mit Entschiedenheit ab, und wird also jetzt einem solchen Gedanken noch
viel weniger das Ohr leihen."

Das heißt mit anderen Worten: der Großherzog konnte, als das lon¬
doner Protokoll entworfen wurde, Beherrscher der dänischen Monarchie werden,
er wurde aber von Rußland fallen gelassen, weil er die vollständige Trennung
Schleswig-Holsteins von Dänemark verlangte.

Diese Behauptung ist aber entschieden unwahr. Die Sache ist vielmehr
wie folgt:

Nußland schlug, damals allmächtig in Europa, als Thronfolger für den von


cher die einzelnen Gründe, desto mehr empfindet man das Bedürfniß, viele
Gründe ins Treffen zu führen. Und dann müßte es mit Wunderdingen zu¬
gehen, wenn die Blitzschläge aus der Retorte des Herrn Pernice eine andere
Wirkung aus das durch die deutsche Wissenschaft seit dreißig Jahren geschaffne
Rechtsbewußtsein haben sollten, als kalte Schläge oder, wenn man will, als
Theaterblitze. Auch die hundert Folioseiten des Urkundenbuchs stören unsre Ge-
müthsruhe nicht wesentlich. Die Schleswig-holsteinische Staatserbfolge ist das
Product der Geschichte der Herzogthümer. Die Thatsachen dieser Geschichte sind
allgemein bekannt. Urkunden sind nur Mittel zur Feststellung von Thatsachen;
wo letztere schon feststehen, sind erstere nicht mehr nöthig für die Fällung eines
gerechten Urtheils. Die Rechtsfrage ist seit Monaten und länger schon entschie¬
den, und ein halb Dutzend alter Lehnbriefe werden daran nichts ändern.

Inzwischen ist, als Präludium gleichsam zu dem Hauptvortrag, eine Denk¬
schrift erschienen, die, von der rechtlichen Seite des Schleswig-holsteinischen
Erbfolgestreites absehend, das Verhalten des Großherzogs Peter in der Sache
dem deutschen Pulicum vom politischen Standpunkt aus plausibel zu machen
bestrebt ist und namentlich die Befürchtung zu widerlegen sucht, die Herzog¬
thümer würden unter oldenburgischen Scepter nicht viel mehr als eine olden¬
burgische Satrapie sein. Im Folgenden begleiten wir die Hauptsätze der Schrift
mit einigen Glossen, aus denen hervorgehen wird, daß man den Jnstinct des
Volkes und die Sachkenntniß seiner Führer in der Presse mit solcher Escamo-
tage nicht berückt.

„Man hat," sagt der Verfasser der Denkschrift, „die Cession von Kissingen
als die Brücke bezeichnet, durch welche die Rückkehr zur Personalunion zwischen
den Herzogthümern und Dänemark ermöglicht werden soll. Aber die Annahme,
daß der Großherzog sich dazu verstehen werde, einer Wiederherstellung der Per¬
sonalunion die Hand zu bieten, ist doch wohl seinen Antecedentien gegenüber
eine mehr als gewagte. Hätte der Großherzog den Thron eines dänischen Ge-
sammtstaates einnehmen wollen, so stand dies, wie bekannt, in seinem Willen
zu einer Zeit, als die Personalunion mit Dänemark jedenfalls noch nicht in
dem Maße eine Unmöglichkeit geworden war, wie heute; aber er lehnte da¬
mals mit Entschiedenheit ab, und wird also jetzt einem solchen Gedanken noch
viel weniger das Ohr leihen."

Das heißt mit anderen Worten: der Großherzog konnte, als das lon¬
doner Protokoll entworfen wurde, Beherrscher der dänischen Monarchie werden,
er wurde aber von Rußland fallen gelassen, weil er die vollständige Trennung
Schleswig-Holsteins von Dänemark verlangte.

Diese Behauptung ist aber entschieden unwahr. Die Sache ist vielmehr
wie folgt:

Nußland schlug, damals allmächtig in Europa, als Thronfolger für den von


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[0139] cher die einzelnen Gründe, desto mehr empfindet man das Bedürfniß, viele Gründe ins Treffen zu führen. Und dann müßte es mit Wunderdingen zu¬ gehen, wenn die Blitzschläge aus der Retorte des Herrn Pernice eine andere Wirkung aus das durch die deutsche Wissenschaft seit dreißig Jahren geschaffne Rechtsbewußtsein haben sollten, als kalte Schläge oder, wenn man will, als Theaterblitze. Auch die hundert Folioseiten des Urkundenbuchs stören unsre Ge- müthsruhe nicht wesentlich. Die Schleswig-holsteinische Staatserbfolge ist das Product der Geschichte der Herzogthümer. Die Thatsachen dieser Geschichte sind allgemein bekannt. Urkunden sind nur Mittel zur Feststellung von Thatsachen; wo letztere schon feststehen, sind erstere nicht mehr nöthig für die Fällung eines gerechten Urtheils. Die Rechtsfrage ist seit Monaten und länger schon entschie¬ den, und ein halb Dutzend alter Lehnbriefe werden daran nichts ändern. Inzwischen ist, als Präludium gleichsam zu dem Hauptvortrag, eine Denk¬ schrift erschienen, die, von der rechtlichen Seite des Schleswig-holsteinischen Erbfolgestreites absehend, das Verhalten des Großherzogs Peter in der Sache dem deutschen Pulicum vom politischen Standpunkt aus plausibel zu machen bestrebt ist und namentlich die Befürchtung zu widerlegen sucht, die Herzog¬ thümer würden unter oldenburgischen Scepter nicht viel mehr als eine olden¬ burgische Satrapie sein. Im Folgenden begleiten wir die Hauptsätze der Schrift mit einigen Glossen, aus denen hervorgehen wird, daß man den Jnstinct des Volkes und die Sachkenntniß seiner Führer in der Presse mit solcher Escamo- tage nicht berückt. „Man hat," sagt der Verfasser der Denkschrift, „die Cession von Kissingen als die Brücke bezeichnet, durch welche die Rückkehr zur Personalunion zwischen den Herzogthümern und Dänemark ermöglicht werden soll. Aber die Annahme, daß der Großherzog sich dazu verstehen werde, einer Wiederherstellung der Per¬ sonalunion die Hand zu bieten, ist doch wohl seinen Antecedentien gegenüber eine mehr als gewagte. Hätte der Großherzog den Thron eines dänischen Ge- sammtstaates einnehmen wollen, so stand dies, wie bekannt, in seinem Willen zu einer Zeit, als die Personalunion mit Dänemark jedenfalls noch nicht in dem Maße eine Unmöglichkeit geworden war, wie heute; aber er lehnte da¬ mals mit Entschiedenheit ab, und wird also jetzt einem solchen Gedanken noch viel weniger das Ohr leihen." Das heißt mit anderen Worten: der Großherzog konnte, als das lon¬ doner Protokoll entworfen wurde, Beherrscher der dänischen Monarchie werden, er wurde aber von Rußland fallen gelassen, weil er die vollständige Trennung Schleswig-Holsteins von Dänemark verlangte. Diese Behauptung ist aber entschieden unwahr. Die Sache ist vielmehr wie folgt: Nußland schlug, damals allmächtig in Europa, als Thronfolger für den von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/139>, abgerufen am 03.07.2024.