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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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reichen Nest der landbauenden Bevölkerung bildete in verschiedenen Abstufunzen
vom Freien bis zum Leibeigenen jherab die nicht-kriegspflichtige, aber schon
in der sächsischen Zeit, in der bereits das Uebergewicht des großen Grundbesitzes
entschieden war, von zahllosen Bodenlasten bedrückte Classe der Hintersassen.
Diese Zustände haben, abgesehen von dem gezwungenen Zusammenleben zweier
feindlichen Volksstämme, nichts Eigenthümliches; sie finden sich mit einigen
nicht wesentlichen Abweichungen gleichzeitig auch auf dem Continent.

Eigenthümlich ist aber die politische Gestaltung, welche diese Elemente zum
Staat einigt. Der bedeutungsvollste Schritt in dieser Richtung war, daß die
Untervasallen, obgleich zunächst dem unmittelbaren Lehnsherrn verpflichtet,
doch auch zugleich dem Könige als obersten Kriegsherrn den Diensteid zu schwö¬
ren hatten; womit es zusammenhängt, daß das Aufgebot der sämmtlichen Mann¬
schaften im Namen des Königs durch königliche Beamte erfolgt. Damit waren
die Untervasallen der unbedingten Verfügung des unmittelbaren Lehnsherrn ent¬
zogen und fest an den König d. h. an den Staat geknüpft. Dadurch war auf
die einfachste, aber unter den damaligen Verhältnissen wirksamste Weise allen
Souveränetätsgelüsten der einzelnen großen Kronvasallen vorgebeugt. Die Wir¬
kung der Maßregel wurde dadurch noch gesteigert, daß Wilhelm den zum Theil
sehr bedeutenden Besitz der einzelnen Barone grundsätzlich nicht zusammengelegt,
sondern durch alle Theile des Reiches zerstreut hatte, so daß bei den Großen
das Bestreben, sich territorial abzurunden und abzuschließen und mit der gan¬
zen Masse ihrer Besitzungen die administrative Eintheilung des Landes zu über¬
wuchern, überall zu durchbrechen und schließlich zu ersticken, gar nicht aufkom¬
men konnte. Tue alte Eintheilung des Landes in Grafschaften, Hundertschaften,
Jnsclschaften wurde beivehalten; sie blieb der Rahmen, innerhalb dessen die Ge-
meindeverhältnisse Englands sich entwickelt haben. Die sächsischen Shirgere-
fas verwandelten sich in normannische Vicccomites (später wieder Sheriffs),
die unter strengster Verantwortlichkeit >n ihren Bezirken Polizei, Gerichte und
die unter den habgierigen normannischen Herrschern besonders wichtigen Finanz¬
angelegenheiten verwalten, wobei sie die Einkünfte ihres Bezirks meist in Pacht
nehmen. Cenlralisirt ist die ganze Verwaltung des Reiches in dem eeluguiör,
einer Hof-, Staats- und Domäncnlammer.

Von großer Wichtigkeit ist die Umbildung, die schon seit den ersten Zeiten
der Normannenherrschast die sächsische Gerichts- und Polizeiverfassung erfah¬
ren hat. In Folge der Zusage, daß die Gesetze Eduards des Bekenners auf¬
recht erhalten werben sollten, waren die altsächsischen urthcilsindenden Schöffen¬
gerichte zunächst vestehen geblieben. Dieselben gliederten sich in zwei Stufen, die
Grafschaft- und Hundertschaft-zgerichte. Mit letzteren standen ungefähr auf einer
Stufe die gutsherrlichen Gerichte, die ebenfalls aus der sächsischen Zeit stam¬
men. Als Urtheilsfinder erschienen in den Hundertschaften alle libori teuellts5,


reichen Nest der landbauenden Bevölkerung bildete in verschiedenen Abstufunzen
vom Freien bis zum Leibeigenen jherab die nicht-kriegspflichtige, aber schon
in der sächsischen Zeit, in der bereits das Uebergewicht des großen Grundbesitzes
entschieden war, von zahllosen Bodenlasten bedrückte Classe der Hintersassen.
Diese Zustände haben, abgesehen von dem gezwungenen Zusammenleben zweier
feindlichen Volksstämme, nichts Eigenthümliches; sie finden sich mit einigen
nicht wesentlichen Abweichungen gleichzeitig auch auf dem Continent.

Eigenthümlich ist aber die politische Gestaltung, welche diese Elemente zum
Staat einigt. Der bedeutungsvollste Schritt in dieser Richtung war, daß die
Untervasallen, obgleich zunächst dem unmittelbaren Lehnsherrn verpflichtet,
doch auch zugleich dem Könige als obersten Kriegsherrn den Diensteid zu schwö¬
ren hatten; womit es zusammenhängt, daß das Aufgebot der sämmtlichen Mann¬
schaften im Namen des Königs durch königliche Beamte erfolgt. Damit waren
die Untervasallen der unbedingten Verfügung des unmittelbaren Lehnsherrn ent¬
zogen und fest an den König d. h. an den Staat geknüpft. Dadurch war auf
die einfachste, aber unter den damaligen Verhältnissen wirksamste Weise allen
Souveränetätsgelüsten der einzelnen großen Kronvasallen vorgebeugt. Die Wir¬
kung der Maßregel wurde dadurch noch gesteigert, daß Wilhelm den zum Theil
sehr bedeutenden Besitz der einzelnen Barone grundsätzlich nicht zusammengelegt,
sondern durch alle Theile des Reiches zerstreut hatte, so daß bei den Großen
das Bestreben, sich territorial abzurunden und abzuschließen und mit der gan¬
zen Masse ihrer Besitzungen die administrative Eintheilung des Landes zu über¬
wuchern, überall zu durchbrechen und schließlich zu ersticken, gar nicht aufkom¬
men konnte. Tue alte Eintheilung des Landes in Grafschaften, Hundertschaften,
Jnsclschaften wurde beivehalten; sie blieb der Rahmen, innerhalb dessen die Ge-
meindeverhältnisse Englands sich entwickelt haben. Die sächsischen Shirgere-
fas verwandelten sich in normannische Vicccomites (später wieder Sheriffs),
die unter strengster Verantwortlichkeit >n ihren Bezirken Polizei, Gerichte und
die unter den habgierigen normannischen Herrschern besonders wichtigen Finanz¬
angelegenheiten verwalten, wobei sie die Einkünfte ihres Bezirks meist in Pacht
nehmen. Cenlralisirt ist die ganze Verwaltung des Reiches in dem eeluguiör,
einer Hof-, Staats- und Domäncnlammer.

Von großer Wichtigkeit ist die Umbildung, die schon seit den ersten Zeiten
der Normannenherrschast die sächsische Gerichts- und Polizeiverfassung erfah¬
ren hat. In Folge der Zusage, daß die Gesetze Eduards des Bekenners auf¬
recht erhalten werben sollten, waren die altsächsischen urthcilsindenden Schöffen¬
gerichte zunächst vestehen geblieben. Dieselben gliederten sich in zwei Stufen, die
Grafschaft- und Hundertschaft-zgerichte. Mit letzteren standen ungefähr auf einer
Stufe die gutsherrlichen Gerichte, die ebenfalls aus der sächsischen Zeit stam¬
men. Als Urtheilsfinder erschienen in den Hundertschaften alle libori teuellts5,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/130>, abgerufen am 03.07.2024.