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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Die volle ganze Persönlichkeit fällt uns so in eine Menge disparater Elemente
auseinander, wir suchen das Gleichartige wieder zusammen, aber was wir aus
diese Art wiederherstellen, ist nie die Totalität der Person, sondern ein künst¬
licher Extract, meist nach dem Recept unsrer heutigen Weltanschauung. Wir
vergessen das Prophetische, das Orientalische in der Natur Jesu, in der das¬
jenige zugleich sein konnte, was erst wir mit unsern logischen Unterscheidungen
zu Widersprüchen machen. Wie eine zukunstsschwangere Wolke war die neue
Welt, die im Geiste Jesu aufgegangen war. Da brach es wohl zuweilen aus
dieser Wolke wie ein Blitz, wenn er Aussprüche that, wie den: in drei Tagen
will ich den Tempel Gottes abbrechen, und in drei Tagen will ich ihn wieder
bauen. Aber weder vor seinem Bewußtsein noch vor dem der Jünger stand
dann sofort die ganze Reihe von Schlüssen und Folgen, die sich für uns an
das kühne Wort knüpfen. Oder es mochte ein anderes Blitzeswvrt sein, daß
die Völker vom Aufgang und Niedergang mit Abraham, Jsaak und Jakob im
Himmelreich zusammen sein werden, aber damit dachte er nicht eine Vorschrift
zu geben für das künftige Verhalten der Boten des Evangeliums gegenüber
der Heidenwelt, eine Vorschrift, zu der er schon darum keine Veranlassung hatte,
weil er während der kurzen Jahre seines öffentlichen Lebens selten genug mit
Heiden in Berührung kommen mochte. Damit stimmt denn auch die Art des
Lehrvortrags Jesu aufs beste überein. Er sprach ja nicht wie die Schrift¬
gelehrten, nirgends sind es zusammenhängende Lehrentwicklungcn, die er giebt,
vielmehr hat seine ganze Art zu lehren, -- wiederum echt morgenländisch --
etwas Aphoristisches. Das Echteste, was uns von ihm aufbewahrt ist, sind
Sprüche, Gleichnisse, meist den Veranlassungen des Augenblicks entlockt. Die
Sittenpredigt tritt nicht in abstracter Form auf, sondern an einzelnen Fällen
und Beispielen, die mit poetischem Sinne der nächsten Gegenwart entnommen
sind, werden die moralischen Ideen veranschaulicht und ebenso der Phantasie
wie dem Gewissen eingeprägt. Durch die poetischen Bilder leuchten die sitt¬
lichen Ideen hindurch, aber sie sind nicht lehrhaft entwickelt oder ihre stricte An¬
wendung auf die einzelnen Lebensfragen vorgeschrieben. Wenn er seine Geistes¬
funken unter die Zeitgenossen warf, lag es ihm ferne, die Punkte aufzusuchen
und zu bezeichnen, wo einmal diese Ideen an der bestehenden Welt sich bre¬
chen und den Kampf mit ihr aufzunehmen hatten. Klar sehen wir nur da,
wo es sich um die allgemeinen höchsten Principien handelt, die von ihm aus¬
gesprochen werden. Aber wo wir auf die Punkte stoßen, wo nun die Princi¬
pien praktisch werden sollten, da verlassen uns die Quellen, sie werden unsicher,
Zweifel und Zwiespalt erhebt sich schon unter denen, die Jesus am nächsten standen.
Erst der Gemeinde war es vorbehalten, in langem Ringen die neue Welt aus¬
einanderzusetzen mit der alten Welt. Der Kampf, der in Jesus ein persönlicher
war, erneuerte sich jetzt als ein allgemeiner Kampf der Gemeinde um das Recht


Die volle ganze Persönlichkeit fällt uns so in eine Menge disparater Elemente
auseinander, wir suchen das Gleichartige wieder zusammen, aber was wir aus
diese Art wiederherstellen, ist nie die Totalität der Person, sondern ein künst¬
licher Extract, meist nach dem Recept unsrer heutigen Weltanschauung. Wir
vergessen das Prophetische, das Orientalische in der Natur Jesu, in der das¬
jenige zugleich sein konnte, was erst wir mit unsern logischen Unterscheidungen
zu Widersprüchen machen. Wie eine zukunstsschwangere Wolke war die neue
Welt, die im Geiste Jesu aufgegangen war. Da brach es wohl zuweilen aus
dieser Wolke wie ein Blitz, wenn er Aussprüche that, wie den: in drei Tagen
will ich den Tempel Gottes abbrechen, und in drei Tagen will ich ihn wieder
bauen. Aber weder vor seinem Bewußtsein noch vor dem der Jünger stand
dann sofort die ganze Reihe von Schlüssen und Folgen, die sich für uns an
das kühne Wort knüpfen. Oder es mochte ein anderes Blitzeswvrt sein, daß
die Völker vom Aufgang und Niedergang mit Abraham, Jsaak und Jakob im
Himmelreich zusammen sein werden, aber damit dachte er nicht eine Vorschrift
zu geben für das künftige Verhalten der Boten des Evangeliums gegenüber
der Heidenwelt, eine Vorschrift, zu der er schon darum keine Veranlassung hatte,
weil er während der kurzen Jahre seines öffentlichen Lebens selten genug mit
Heiden in Berührung kommen mochte. Damit stimmt denn auch die Art des
Lehrvortrags Jesu aufs beste überein. Er sprach ja nicht wie die Schrift¬
gelehrten, nirgends sind es zusammenhängende Lehrentwicklungcn, die er giebt,
vielmehr hat seine ganze Art zu lehren, — wiederum echt morgenländisch —
etwas Aphoristisches. Das Echteste, was uns von ihm aufbewahrt ist, sind
Sprüche, Gleichnisse, meist den Veranlassungen des Augenblicks entlockt. Die
Sittenpredigt tritt nicht in abstracter Form auf, sondern an einzelnen Fällen
und Beispielen, die mit poetischem Sinne der nächsten Gegenwart entnommen
sind, werden die moralischen Ideen veranschaulicht und ebenso der Phantasie
wie dem Gewissen eingeprägt. Durch die poetischen Bilder leuchten die sitt¬
lichen Ideen hindurch, aber sie sind nicht lehrhaft entwickelt oder ihre stricte An¬
wendung auf die einzelnen Lebensfragen vorgeschrieben. Wenn er seine Geistes¬
funken unter die Zeitgenossen warf, lag es ihm ferne, die Punkte aufzusuchen
und zu bezeichnen, wo einmal diese Ideen an der bestehenden Welt sich bre¬
chen und den Kampf mit ihr aufzunehmen hatten. Klar sehen wir nur da,
wo es sich um die allgemeinen höchsten Principien handelt, die von ihm aus¬
gesprochen werden. Aber wo wir auf die Punkte stoßen, wo nun die Princi¬
pien praktisch werden sollten, da verlassen uns die Quellen, sie werden unsicher,
Zweifel und Zwiespalt erhebt sich schon unter denen, die Jesus am nächsten standen.
Erst der Gemeinde war es vorbehalten, in langem Ringen die neue Welt aus¬
einanderzusetzen mit der alten Welt. Der Kampf, der in Jesus ein persönlicher
war, erneuerte sich jetzt als ein allgemeiner Kampf der Gemeinde um das Recht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/466>, abgerufen am 28.09.2024.