Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wenn neue große Principien von einem überlegenen Geiste ausgesprochen sind,
dessen Schüler erst damit beginnen, sie an den alten Meinungen und Zuständen zu
vermitteln, daß jene Principien erst abermals von neuen Schranken eingezwängt
werden, die sie nur allmälig zu durchbrechen im Stande sind. Wir dürfen an
die Schicksale der Reformation erinnern, an die Wiedererstarrung der protestan¬
tischen Dogmatik. an den langsamen Proceß, den die Ideen des sechzehnten
Jahrhunderts durchzumachen haben. Und ein Aehnliches findet jedesmal statt.
Im Kleinen haben wir es in unserem Jahrhundert erlebt. Wie sind die Ge¬
danken der hegelschen Philosophie festgefroren in der althegelschen Schule, wie
auffällig ist die rückgängige Bewegung, welche die Schüler Schleiermachers bis
zur Verläugnung der Grundsätze ihres Meisters machten. Somit hätten wir
es nur mit einem allgemeinen Gesetz zu thun, wenn wir in dem Geist der
ersten Gemeinde den Geist Jesu nicht wiederfinden, und die Losreißung vom
Judenthum, welche schon vom Meister ausgesprochen ist, noch einmal als die
von der gesammten christlichen Kirche erst durchzuführende Aufgabe erscheint.
Aber es handelt sich hier noch um etwas anderes. Es handelt sich um posi¬
tive Aussprüche, um ganz bestimmte Gebote Jesu, welche von seinen nächsten
Jüngern unbegreiflicherweise vergessen oder verläugnet worden wären. Und
hier bleibt uns nichts anderes übrig als zu sagen: Diese bestimmten Aus¬
sprüche können von Jesus nicht erfolgt sein, sonst könnten wir bei seinen un¬
mittelbaren Schülern nicht eine entgegengesetzte Praxis finden.

Bei einem Punkte sieht sich auch Strauß zu diesem Zugeständnis; genöthigt,
nämlich bei der Frage, ob das Evangelium auch den Heiden zu bringen sei.
Wenn Jesus, sagt er, sie so rund und feierlich bejaht gehabt hätte, so ist nicht
wohl denkbar, daß sie später so heftige Kämpfe hätte anregen und die älteren
Apostel, die ständigen Begleiter Jesu, sich von Anfang an sämmtlich auf die
Seite der Verneinung dieser Frage hätte stellen tonnen. Ganz richtig, nur
findet diese Einschränkung auch in Bezug auf die Stellung Jesu zum Gesetz
ihre Anwendung, ja wir müssen sie auf seinen ganzen Gedankenkreis anwenden,
um die folgende Geschichte zu verstehen. Gewiß lag in den Ideen, wie sie Je¬
sus in seine kurzen Sprüche kleidete, das Ende des Mosaismus, die Bildung
eines rein geistigen Reichs, der Kern einer universalen Humanitätsreligion,
aber alles dies lag darin nur im Keime. Es waren Andeutungen, prophetische
Gedankenblitze, die aber noch nicht mit dem vollen Bewußtsein der praktischen
Folgen, noch nicht in ihrer Konsequenz in Bezug aus die Einzelfragen verfolgt
waren. Wir Pflegen, wenn wir dem Bewußtsein Jesu näher zu kommen su¬
chen, mit unsern nüchternen abendländischen Kategorien zu kommen, an jeden
Ausspruch knüpfen wir ein logisches Gewebe von Ursachen und Wirkungen.
Wir zerlegen sorgfältig jeden Gedanken in seine Momente, und eben dies ist
die Einseitigkeit, durch die wir uns das historische Verständniß Jesu erschweren.


Grenzboten III. 1864. 68

wenn neue große Principien von einem überlegenen Geiste ausgesprochen sind,
dessen Schüler erst damit beginnen, sie an den alten Meinungen und Zuständen zu
vermitteln, daß jene Principien erst abermals von neuen Schranken eingezwängt
werden, die sie nur allmälig zu durchbrechen im Stande sind. Wir dürfen an
die Schicksale der Reformation erinnern, an die Wiedererstarrung der protestan¬
tischen Dogmatik. an den langsamen Proceß, den die Ideen des sechzehnten
Jahrhunderts durchzumachen haben. Und ein Aehnliches findet jedesmal statt.
Im Kleinen haben wir es in unserem Jahrhundert erlebt. Wie sind die Ge¬
danken der hegelschen Philosophie festgefroren in der althegelschen Schule, wie
auffällig ist die rückgängige Bewegung, welche die Schüler Schleiermachers bis
zur Verläugnung der Grundsätze ihres Meisters machten. Somit hätten wir
es nur mit einem allgemeinen Gesetz zu thun, wenn wir in dem Geist der
ersten Gemeinde den Geist Jesu nicht wiederfinden, und die Losreißung vom
Judenthum, welche schon vom Meister ausgesprochen ist, noch einmal als die
von der gesammten christlichen Kirche erst durchzuführende Aufgabe erscheint.
Aber es handelt sich hier noch um etwas anderes. Es handelt sich um posi¬
tive Aussprüche, um ganz bestimmte Gebote Jesu, welche von seinen nächsten
Jüngern unbegreiflicherweise vergessen oder verläugnet worden wären. Und
hier bleibt uns nichts anderes übrig als zu sagen: Diese bestimmten Aus¬
sprüche können von Jesus nicht erfolgt sein, sonst könnten wir bei seinen un¬
mittelbaren Schülern nicht eine entgegengesetzte Praxis finden.

Bei einem Punkte sieht sich auch Strauß zu diesem Zugeständnis; genöthigt,
nämlich bei der Frage, ob das Evangelium auch den Heiden zu bringen sei.
Wenn Jesus, sagt er, sie so rund und feierlich bejaht gehabt hätte, so ist nicht
wohl denkbar, daß sie später so heftige Kämpfe hätte anregen und die älteren
Apostel, die ständigen Begleiter Jesu, sich von Anfang an sämmtlich auf die
Seite der Verneinung dieser Frage hätte stellen tonnen. Ganz richtig, nur
findet diese Einschränkung auch in Bezug auf die Stellung Jesu zum Gesetz
ihre Anwendung, ja wir müssen sie auf seinen ganzen Gedankenkreis anwenden,
um die folgende Geschichte zu verstehen. Gewiß lag in den Ideen, wie sie Je¬
sus in seine kurzen Sprüche kleidete, das Ende des Mosaismus, die Bildung
eines rein geistigen Reichs, der Kern einer universalen Humanitätsreligion,
aber alles dies lag darin nur im Keime. Es waren Andeutungen, prophetische
Gedankenblitze, die aber noch nicht mit dem vollen Bewußtsein der praktischen
Folgen, noch nicht in ihrer Konsequenz in Bezug aus die Einzelfragen verfolgt
waren. Wir Pflegen, wenn wir dem Bewußtsein Jesu näher zu kommen su¬
chen, mit unsern nüchternen abendländischen Kategorien zu kommen, an jeden
Ausspruch knüpfen wir ein logisches Gewebe von Ursachen und Wirkungen.
Wir zerlegen sorgfältig jeden Gedanken in seine Momente, und eben dies ist
die Einseitigkeit, durch die wir uns das historische Verständniß Jesu erschweren.


Grenzboten III. 1864. 68
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189560"/>
          <p xml:id="ID_1769" prev="#ID_1768"> wenn neue große Principien von einem überlegenen Geiste ausgesprochen sind,<lb/>
dessen Schüler erst damit beginnen, sie an den alten Meinungen und Zuständen zu<lb/>
vermitteln, daß jene Principien erst abermals von neuen Schranken eingezwängt<lb/>
werden, die sie nur allmälig zu durchbrechen im Stande sind. Wir dürfen an<lb/>
die Schicksale der Reformation erinnern, an die Wiedererstarrung der protestan¬<lb/>
tischen Dogmatik. an den langsamen Proceß, den die Ideen des sechzehnten<lb/>
Jahrhunderts durchzumachen haben. Und ein Aehnliches findet jedesmal statt.<lb/>
Im Kleinen haben wir es in unserem Jahrhundert erlebt. Wie sind die Ge¬<lb/>
danken der hegelschen Philosophie festgefroren in der althegelschen Schule, wie<lb/>
auffällig ist die rückgängige Bewegung, welche die Schüler Schleiermachers bis<lb/>
zur Verläugnung der Grundsätze ihres Meisters machten. Somit hätten wir<lb/>
es nur mit einem allgemeinen Gesetz zu thun, wenn wir in dem Geist der<lb/>
ersten Gemeinde den Geist Jesu nicht wiederfinden, und die Losreißung vom<lb/>
Judenthum, welche schon vom Meister ausgesprochen ist, noch einmal als die<lb/>
von der gesammten christlichen Kirche erst durchzuführende Aufgabe erscheint.<lb/>
Aber es handelt sich hier noch um etwas anderes. Es handelt sich um posi¬<lb/>
tive Aussprüche, um ganz bestimmte Gebote Jesu, welche von seinen nächsten<lb/>
Jüngern unbegreiflicherweise vergessen oder verläugnet worden wären. Und<lb/>
hier bleibt uns nichts anderes übrig als zu sagen: Diese bestimmten Aus¬<lb/>
sprüche können von Jesus nicht erfolgt sein, sonst könnten wir bei seinen un¬<lb/>
mittelbaren Schülern nicht eine entgegengesetzte Praxis finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1770" next="#ID_1771"> Bei einem Punkte sieht sich auch Strauß zu diesem Zugeständnis; genöthigt,<lb/>
nämlich bei der Frage, ob das Evangelium auch den Heiden zu bringen sei.<lb/>
Wenn Jesus, sagt er, sie so rund und feierlich bejaht gehabt hätte, so ist nicht<lb/>
wohl denkbar, daß sie später so heftige Kämpfe hätte anregen und die älteren<lb/>
Apostel, die ständigen Begleiter Jesu, sich von Anfang an sämmtlich auf die<lb/>
Seite der Verneinung dieser Frage hätte stellen tonnen. Ganz richtig, nur<lb/>
findet diese Einschränkung auch in Bezug auf die Stellung Jesu zum Gesetz<lb/>
ihre Anwendung, ja wir müssen sie auf seinen ganzen Gedankenkreis anwenden,<lb/>
um die folgende Geschichte zu verstehen. Gewiß lag in den Ideen, wie sie Je¬<lb/>
sus in seine kurzen Sprüche kleidete, das Ende des Mosaismus, die Bildung<lb/>
eines rein geistigen Reichs, der Kern einer universalen Humanitätsreligion,<lb/>
aber alles dies lag darin nur im Keime. Es waren Andeutungen, prophetische<lb/>
Gedankenblitze, die aber noch nicht mit dem vollen Bewußtsein der praktischen<lb/>
Folgen, noch nicht in ihrer Konsequenz in Bezug aus die Einzelfragen verfolgt<lb/>
waren. Wir Pflegen, wenn wir dem Bewußtsein Jesu näher zu kommen su¬<lb/>
chen, mit unsern nüchternen abendländischen Kategorien zu kommen, an jeden<lb/>
Ausspruch knüpfen wir ein logisches Gewebe von Ursachen und Wirkungen.<lb/>
Wir zerlegen sorgfältig jeden Gedanken in seine Momente, und eben dies ist<lb/>
die Einseitigkeit, durch die wir uns das historische Verständniß Jesu erschweren.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1864. 68</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0465] wenn neue große Principien von einem überlegenen Geiste ausgesprochen sind, dessen Schüler erst damit beginnen, sie an den alten Meinungen und Zuständen zu vermitteln, daß jene Principien erst abermals von neuen Schranken eingezwängt werden, die sie nur allmälig zu durchbrechen im Stande sind. Wir dürfen an die Schicksale der Reformation erinnern, an die Wiedererstarrung der protestan¬ tischen Dogmatik. an den langsamen Proceß, den die Ideen des sechzehnten Jahrhunderts durchzumachen haben. Und ein Aehnliches findet jedesmal statt. Im Kleinen haben wir es in unserem Jahrhundert erlebt. Wie sind die Ge¬ danken der hegelschen Philosophie festgefroren in der althegelschen Schule, wie auffällig ist die rückgängige Bewegung, welche die Schüler Schleiermachers bis zur Verläugnung der Grundsätze ihres Meisters machten. Somit hätten wir es nur mit einem allgemeinen Gesetz zu thun, wenn wir in dem Geist der ersten Gemeinde den Geist Jesu nicht wiederfinden, und die Losreißung vom Judenthum, welche schon vom Meister ausgesprochen ist, noch einmal als die von der gesammten christlichen Kirche erst durchzuführende Aufgabe erscheint. Aber es handelt sich hier noch um etwas anderes. Es handelt sich um posi¬ tive Aussprüche, um ganz bestimmte Gebote Jesu, welche von seinen nächsten Jüngern unbegreiflicherweise vergessen oder verläugnet worden wären. Und hier bleibt uns nichts anderes übrig als zu sagen: Diese bestimmten Aus¬ sprüche können von Jesus nicht erfolgt sein, sonst könnten wir bei seinen un¬ mittelbaren Schülern nicht eine entgegengesetzte Praxis finden. Bei einem Punkte sieht sich auch Strauß zu diesem Zugeständnis; genöthigt, nämlich bei der Frage, ob das Evangelium auch den Heiden zu bringen sei. Wenn Jesus, sagt er, sie so rund und feierlich bejaht gehabt hätte, so ist nicht wohl denkbar, daß sie später so heftige Kämpfe hätte anregen und die älteren Apostel, die ständigen Begleiter Jesu, sich von Anfang an sämmtlich auf die Seite der Verneinung dieser Frage hätte stellen tonnen. Ganz richtig, nur findet diese Einschränkung auch in Bezug auf die Stellung Jesu zum Gesetz ihre Anwendung, ja wir müssen sie auf seinen ganzen Gedankenkreis anwenden, um die folgende Geschichte zu verstehen. Gewiß lag in den Ideen, wie sie Je¬ sus in seine kurzen Sprüche kleidete, das Ende des Mosaismus, die Bildung eines rein geistigen Reichs, der Kern einer universalen Humanitätsreligion, aber alles dies lag darin nur im Keime. Es waren Andeutungen, prophetische Gedankenblitze, die aber noch nicht mit dem vollen Bewußtsein der praktischen Folgen, noch nicht in ihrer Konsequenz in Bezug aus die Einzelfragen verfolgt waren. Wir Pflegen, wenn wir dem Bewußtsein Jesu näher zu kommen su¬ chen, mit unsern nüchternen abendländischen Kategorien zu kommen, an jeden Ausspruch knüpfen wir ein logisches Gewebe von Ursachen und Wirkungen. Wir zerlegen sorgfältig jeden Gedanken in seine Momente, und eben dies ist die Einseitigkeit, durch die wir uns das historische Verständniß Jesu erschweren. Grenzboten III. 1864. 68

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/465
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/465>, abgerufen am 28.09.2024.