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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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von der Gemeinde dargestellt, seine Person sagenverherrlicht und insbesondere
seine Lehre in den Gegensatz der späteren Richtungen hineingezogen wurde.
Aber gleichwohl ist es nun unendlich schwer, von dieser Erkenntniß die Anwen¬
dung auf jeden einzelnen Ausspruch Jesu zu machen. Anet wenn die dogma¬
tische Eigenthümlichkeit der Evangelien im Allgemeinen erkannt ist, so ist es
etwas ganz anderes, daraus bestimmte Rückschlüsse auf die Persönlichkeit Jesu
selbst zu machen. Mit lauter negativen Großen gewinnen wir noch kein po¬
sitives Resultat. Wenn Jesus seinen Jüngern verbietet, das Heilige den Hun¬
den vorzuwerfen, so werden wir darin leicht eine von einem judaistischen Ge¬
schichtsschreiber gemachte Geschichte erkennen, und wenn wir dagegen den Be¬
fehl an die Jünger lesen, den Heiden das Evangelium zu bringen, so drängt
sich sofort der Verdacht auf, daß dies erst nach den Erfolgen des Paulinismus
ein Pauliner geschrieben habe. Aber damit ist noch wenig für die Frage ge¬
wonnen, was nun wirklich die Lehre und Praxis Jesu gewesen sei. Wie vie¬
les bleibt hier dem historischen Takt des Biographen überlassen! Jeder einzelne
Punkt ist von Neuem streitig, und am Ende wird doch immer diejenige Ansicht
entscheiden, welche der Kritiker von dem Totaleindruck der Person und Wirk¬
samkeit Jesu gewonnen hat. Wie, wenn man z. B. die Widersprüche in der
Weise löste, daß alle jene auf die Heiden bezüglichen Aussprüche, sowohl die
jüdisch als die universalistisch lautenden, daß alle Aeußerungen über die Gel¬
tung des Gesetzes, in welchem Sinne immer, wohl der späteren Zeit ihre Ent¬
stehung verdanken, da diese Fragen wirklich praktisch wurden, daß aber Jesus
selbst diese Fragen noch ganz ferne lagen, daß auch die Annahme des Messias¬
titels von seiner Seite sich nicht nachweisen lasse, daß vielmehr erst nach seinem
Tode die Jünger auf ihn die danielische Stelle vom kommenden Menschensohne
angewendet hätten! In der That ist das die Ansicht, welche Volkmar durchzu¬
führen versucht hat; aber wie weit ist dieses radicale Verfahren entfernt von
der fast peinlichen Gewissenhaftigkeit eines Strauß, der jede Stelle zwei- und
dreimal umwendet, um ja kein Stückchen, das einen Kern historischer Wahr¬
scheinlichkeit enthalten könnte, unbesehen aus der Hand zu legen.

Gleichwohl ist es nun unverkennbar, daß die deutsche Forschung neuerdings
zu gleichmäßigen Hauptresultaten gelangt ist. Es ist die allgemeine Annahme,
daß das historische Lebensbild Jesu in den drei ersten Evangelien weit mehr
durch judaistische als durch paulinisch-universalistische Züge alterirt ist. mit an¬
deren Worten, daß Jesus im Allgemeinen geistig höher stand und freier dachte,
als er im Durchschnitt bei den Synoptikern erscheint, daß diejenigen Züge,
welche ihn über das Judenthum hinausgreifend darstellen, der geschichtlichen
Wirklichkeit näher stehen, als die entgegengesetzten. Strauß ist sichtlich bemüht,
der engherzigen Anschauung zum Trotz, die sich im ältesten Christenthum gel¬
tend machte, und zumal im ersten Evangelium, das doch andrerseits die zu-


von der Gemeinde dargestellt, seine Person sagenverherrlicht und insbesondere
seine Lehre in den Gegensatz der späteren Richtungen hineingezogen wurde.
Aber gleichwohl ist es nun unendlich schwer, von dieser Erkenntniß die Anwen¬
dung auf jeden einzelnen Ausspruch Jesu zu machen. Anet wenn die dogma¬
tische Eigenthümlichkeit der Evangelien im Allgemeinen erkannt ist, so ist es
etwas ganz anderes, daraus bestimmte Rückschlüsse auf die Persönlichkeit Jesu
selbst zu machen. Mit lauter negativen Großen gewinnen wir noch kein po¬
sitives Resultat. Wenn Jesus seinen Jüngern verbietet, das Heilige den Hun¬
den vorzuwerfen, so werden wir darin leicht eine von einem judaistischen Ge¬
schichtsschreiber gemachte Geschichte erkennen, und wenn wir dagegen den Be¬
fehl an die Jünger lesen, den Heiden das Evangelium zu bringen, so drängt
sich sofort der Verdacht auf, daß dies erst nach den Erfolgen des Paulinismus
ein Pauliner geschrieben habe. Aber damit ist noch wenig für die Frage ge¬
wonnen, was nun wirklich die Lehre und Praxis Jesu gewesen sei. Wie vie¬
les bleibt hier dem historischen Takt des Biographen überlassen! Jeder einzelne
Punkt ist von Neuem streitig, und am Ende wird doch immer diejenige Ansicht
entscheiden, welche der Kritiker von dem Totaleindruck der Person und Wirk¬
samkeit Jesu gewonnen hat. Wie, wenn man z. B. die Widersprüche in der
Weise löste, daß alle jene auf die Heiden bezüglichen Aussprüche, sowohl die
jüdisch als die universalistisch lautenden, daß alle Aeußerungen über die Gel¬
tung des Gesetzes, in welchem Sinne immer, wohl der späteren Zeit ihre Ent¬
stehung verdanken, da diese Fragen wirklich praktisch wurden, daß aber Jesus
selbst diese Fragen noch ganz ferne lagen, daß auch die Annahme des Messias¬
titels von seiner Seite sich nicht nachweisen lasse, daß vielmehr erst nach seinem
Tode die Jünger auf ihn die danielische Stelle vom kommenden Menschensohne
angewendet hätten! In der That ist das die Ansicht, welche Volkmar durchzu¬
führen versucht hat; aber wie weit ist dieses radicale Verfahren entfernt von
der fast peinlichen Gewissenhaftigkeit eines Strauß, der jede Stelle zwei- und
dreimal umwendet, um ja kein Stückchen, das einen Kern historischer Wahr¬
scheinlichkeit enthalten könnte, unbesehen aus der Hand zu legen.

Gleichwohl ist es nun unverkennbar, daß die deutsche Forschung neuerdings
zu gleichmäßigen Hauptresultaten gelangt ist. Es ist die allgemeine Annahme,
daß das historische Lebensbild Jesu in den drei ersten Evangelien weit mehr
durch judaistische als durch paulinisch-universalistische Züge alterirt ist. mit an¬
deren Worten, daß Jesus im Allgemeinen geistig höher stand und freier dachte,
als er im Durchschnitt bei den Synoptikern erscheint, daß diejenigen Züge,
welche ihn über das Judenthum hinausgreifend darstellen, der geschichtlichen
Wirklichkeit näher stehen, als die entgegengesetzten. Strauß ist sichtlich bemüht,
der engherzigen Anschauung zum Trotz, die sich im ältesten Christenthum gel¬
tend machte, und zumal im ersten Evangelium, das doch andrerseits die zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/462>, abgerufen am 28.09.2024.