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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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immer bewußter, auch in deren Anwendung immer kühner geworden. Dadurch
würde sich allerdings ein Theil jener Schwierigkeiten beseitigen lassen. Es wäre
an sich nur natürlich, daß Jesus seinen Beruf zunächst nur auf das Volk, dem
er selbst angehörte, bezog, mit der Zeit jedoch in der Berührung mit Sama¬
ritern und Heiden, welche größere Empfänglichkeit zeigten, als die verstockten
Juden, die Bestimmung seines idealen Reichs auf alle Völker ohne Unterschied
ausdehnte, daß er ebenso zunächst nur die moralischen Elemente im mosaischen
Gesetz als dessen Kern heraushob, später aber sich über den Gegensatz seiner
Lehre zum Gesetz immer klarer wurde und geradezu das Ende des Tempeldien-
stes verkündigte und eine rein geistige Anbetung des geistigen Gottes verlangte.
Allein auch wenn dieser Gang der Sache an sich nichts Unwahrscheinliches hat,
so ist es doch nicht möglich, ihn aus den Berichten der Evangelien herauszu¬
lesen. Denn hier stehen jene widersprechenden Aeußerungen nebeneinander
und durcheinander, ohne logische Folge und Ordnung, und selbst wenn man
dieselben in eine künstliche Ordnung gebracht, bleiben die Widersprüche noch so
schroff, daß man sich unmöglich denken kann, wie dieselbe Persönlichkeit, wenn
auch zu verschiedenen Zeiten, so entgegengesetzte Lehren vorgetragen hätte. End¬
lich aber ist hiermit, wie gesagt, nur ein Theil der Schwierigkeiten beseitigt.
Die Schwankungen in Bezug auf die Auffassung des Messiasreiches und des
Messiasberufes lassen sich damit so wenig erklären, daß vielmehr hier die rei¬
nere geistigere Auffassung die frühere zu sein scheint, während gerade jene Stel¬
len, wo das Wiederkommen des Messias geschildert und mit phantastischem Bei¬
werk ausgeschmückt ist, wie es der herkömmlichen Messiasidee entsprach, gegen
das Ende des Lebens Jesu sich häufen.

Also mit dieser Annahme einer allmäligen psychologischen Entwicklung
in der auch verschiedenartige Standpunkte nacheinander Platz finden, ist immer
noch wenig geholfen. Man wird vielmehr, um ein einheitliches harmonisches
Lebensbild herzustellen, den kritischen Hebel tiefer ansetzen müssen. Man wird
genau unterscheiden müssen zwischen Aussprüchen Jesu, die wir als authentisch
ansehen dürfen, und zwischen solchen, deren Entstehung wir auf Rechnung spä¬
terer dogmatischer Motive zu setzen haben, zwischen Handlungen, die ein histo¬
risches Gepräge haben, und solchen, die auf späterer Sage oder bewußter Dich¬
tung beruhen. Aber wie diese Grenzlinie finden? Welches ist das untrügliche
Kriterium, das die historischen Stücke scheidet von den unhistorischen? Allerdings,
ganz dem subjectiven Ermessen, der Willkür ist dieses Scheidungsgeschäft nicht
Mehr anheimgegeben. Wir kennen bereits die leitenden Grundsätze, welche hier
die kritische Theologie aufgestellt hat. Seitdem die Zustände und Parteigegen-
satze der ältesten Kirche ans Licht gezogen worden sind, seitdem von hier aus ein
überraschendes Licht über die Komposition der Evangelien verbreitet worden ist, sind
im Allgemeinen auch die Gesichtspunkte aufgedeckt, unter welchen das Leben Jesu


immer bewußter, auch in deren Anwendung immer kühner geworden. Dadurch
würde sich allerdings ein Theil jener Schwierigkeiten beseitigen lassen. Es wäre
an sich nur natürlich, daß Jesus seinen Beruf zunächst nur auf das Volk, dem
er selbst angehörte, bezog, mit der Zeit jedoch in der Berührung mit Sama¬
ritern und Heiden, welche größere Empfänglichkeit zeigten, als die verstockten
Juden, die Bestimmung seines idealen Reichs auf alle Völker ohne Unterschied
ausdehnte, daß er ebenso zunächst nur die moralischen Elemente im mosaischen
Gesetz als dessen Kern heraushob, später aber sich über den Gegensatz seiner
Lehre zum Gesetz immer klarer wurde und geradezu das Ende des Tempeldien-
stes verkündigte und eine rein geistige Anbetung des geistigen Gottes verlangte.
Allein auch wenn dieser Gang der Sache an sich nichts Unwahrscheinliches hat,
so ist es doch nicht möglich, ihn aus den Berichten der Evangelien herauszu¬
lesen. Denn hier stehen jene widersprechenden Aeußerungen nebeneinander
und durcheinander, ohne logische Folge und Ordnung, und selbst wenn man
dieselben in eine künstliche Ordnung gebracht, bleiben die Widersprüche noch so
schroff, daß man sich unmöglich denken kann, wie dieselbe Persönlichkeit, wenn
auch zu verschiedenen Zeiten, so entgegengesetzte Lehren vorgetragen hätte. End¬
lich aber ist hiermit, wie gesagt, nur ein Theil der Schwierigkeiten beseitigt.
Die Schwankungen in Bezug auf die Auffassung des Messiasreiches und des
Messiasberufes lassen sich damit so wenig erklären, daß vielmehr hier die rei¬
nere geistigere Auffassung die frühere zu sein scheint, während gerade jene Stel¬
len, wo das Wiederkommen des Messias geschildert und mit phantastischem Bei¬
werk ausgeschmückt ist, wie es der herkömmlichen Messiasidee entsprach, gegen
das Ende des Lebens Jesu sich häufen.

Also mit dieser Annahme einer allmäligen psychologischen Entwicklung
in der auch verschiedenartige Standpunkte nacheinander Platz finden, ist immer
noch wenig geholfen. Man wird vielmehr, um ein einheitliches harmonisches
Lebensbild herzustellen, den kritischen Hebel tiefer ansetzen müssen. Man wird
genau unterscheiden müssen zwischen Aussprüchen Jesu, die wir als authentisch
ansehen dürfen, und zwischen solchen, deren Entstehung wir auf Rechnung spä¬
terer dogmatischer Motive zu setzen haben, zwischen Handlungen, die ein histo¬
risches Gepräge haben, und solchen, die auf späterer Sage oder bewußter Dich¬
tung beruhen. Aber wie diese Grenzlinie finden? Welches ist das untrügliche
Kriterium, das die historischen Stücke scheidet von den unhistorischen? Allerdings,
ganz dem subjectiven Ermessen, der Willkür ist dieses Scheidungsgeschäft nicht
Mehr anheimgegeben. Wir kennen bereits die leitenden Grundsätze, welche hier
die kritische Theologie aufgestellt hat. Seitdem die Zustände und Parteigegen-
satze der ältesten Kirche ans Licht gezogen worden sind, seitdem von hier aus ein
überraschendes Licht über die Komposition der Evangelien verbreitet worden ist, sind
im Allgemeinen auch die Gesichtspunkte aufgedeckt, unter welchen das Leben Jesu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/461>, abgerufen am 28.09.2024.