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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Volksbranch und Averglaube im Erzgebirge.
3.

Um Gebal, Taufe und Erziehung der Kinder hat sich allerlei Aberglaube
angesetzt, der zum Theil recht wunderlich ist. Eine Frau in andern Umständen
darf nicht essend vor dem Brodschrank stehen, weil dann ihr Kind "die Mitesser"
bekommt. Die Zukunft des Kindes bestimmt, wie überall unter den Altgläu¬
bigen in Deutschland, das Himmelszeiehen, unter dem es geboren wird. Die
Pathen müssen bei der Taufe frische Wäsche tragen, sonst wird das Kind un¬
sauber. Wer den Pathenbrief bei sich führt, darf kein Messer bei sich tragen,
sonst wird das Kind ein Selbstmörder, auch keinen Schlüssel, sonst bekommt es
ein verschlossenes Gemüth. Dem Säugling, der auf dem Arme seiner Mutter
bei den Nachbarn und Verwandten seinen ersten Besuch macht, werden drei
frische Eier geschenkt, damit er leicht sprechen lerne. Beim Entwöhnen giebt
man dem Kinde ein langes rothseidnes Band, was im Volksmunde "den Zitz
verkaufen" heißt und wahrscheinlich eine magische Vorsichtsmaßregel gegen das
Beschrienwerdcn ist. Wer die leere Wiege schaukelt, raubt dem Kinde die Ruhe
oder bewirkt, wie Andere meinen, daß bald wieder ein Kind ankommt. Der
erste Brei darf dem Kinde nicht geblasen werden, damit es sich nicht einst den
Mund mit heißer Suppe verbrenne. Vor Ablauf des ersten Jahres soll man
es nicht in den Spiegel sehen lassen, weil es sonst eitel wird, ihm die Nägel
nicht abschneiden, weil man ihm damit sein Glück abschneidet, es nicht an Blu¬
men riechen lassen, weil ihm dies den Geruch benimmt, es nicht durch ein
Fenster in ein Zimmer reichen, ohne es auf demselben Wege zurückzunehmen,
weil es sonst "sitzen bleibt", d. h. nicht mehr wächst, was auch dann stattfindet,
wenn zwei Kinder unter einem Jahre sich küssen. Kinder, welche "gokeln",
d. h. mit Feuer oder Licht spielen, nässen das Bett, wie allgemein im Sächsi¬
schen. Gegen Krämpfe schützt man die Kinder in Geiersdorf dadurch, daß man
ihnen ein Gesangbuch und ein schwarzes Tuch unter das Kopfkissen legt, und
bei Geier zahnen die Kinder leichter, wenn man sie im ersten Lebensjahre zu
einem Fleischer trägt und ihnen von diesem das Zahnfleisch mit dem Blute
eines frischgeschlachtetcn Kalbes bestreichen laßt.

Daß die Liebe der Geschlechter wie überall auch im Erzgebirge von jeher
ein Gebiet gewesen, wo der Aberglaube sich Hütten baut, sahen wir schon bei
den Zaubergebräuchen des Andreastages. Hier noch Einiges von dem, was
Brautleute zu thun und zu lassen haben, um glücklich zu werden und Schaden
zu meiden. Wie im größten Theile Deutschlands so darf auch im Erzgebirge


Volksbranch und Averglaube im Erzgebirge.
3.

Um Gebal, Taufe und Erziehung der Kinder hat sich allerlei Aberglaube
angesetzt, der zum Theil recht wunderlich ist. Eine Frau in andern Umständen
darf nicht essend vor dem Brodschrank stehen, weil dann ihr Kind „die Mitesser"
bekommt. Die Zukunft des Kindes bestimmt, wie überall unter den Altgläu¬
bigen in Deutschland, das Himmelszeiehen, unter dem es geboren wird. Die
Pathen müssen bei der Taufe frische Wäsche tragen, sonst wird das Kind un¬
sauber. Wer den Pathenbrief bei sich führt, darf kein Messer bei sich tragen,
sonst wird das Kind ein Selbstmörder, auch keinen Schlüssel, sonst bekommt es
ein verschlossenes Gemüth. Dem Säugling, der auf dem Arme seiner Mutter
bei den Nachbarn und Verwandten seinen ersten Besuch macht, werden drei
frische Eier geschenkt, damit er leicht sprechen lerne. Beim Entwöhnen giebt
man dem Kinde ein langes rothseidnes Band, was im Volksmunde „den Zitz
verkaufen" heißt und wahrscheinlich eine magische Vorsichtsmaßregel gegen das
Beschrienwerdcn ist. Wer die leere Wiege schaukelt, raubt dem Kinde die Ruhe
oder bewirkt, wie Andere meinen, daß bald wieder ein Kind ankommt. Der
erste Brei darf dem Kinde nicht geblasen werden, damit es sich nicht einst den
Mund mit heißer Suppe verbrenne. Vor Ablauf des ersten Jahres soll man
es nicht in den Spiegel sehen lassen, weil es sonst eitel wird, ihm die Nägel
nicht abschneiden, weil man ihm damit sein Glück abschneidet, es nicht an Blu¬
men riechen lassen, weil ihm dies den Geruch benimmt, es nicht durch ein
Fenster in ein Zimmer reichen, ohne es auf demselben Wege zurückzunehmen,
weil es sonst „sitzen bleibt", d. h. nicht mehr wächst, was auch dann stattfindet,
wenn zwei Kinder unter einem Jahre sich küssen. Kinder, welche „gokeln",
d. h. mit Feuer oder Licht spielen, nässen das Bett, wie allgemein im Sächsi¬
schen. Gegen Krämpfe schützt man die Kinder in Geiersdorf dadurch, daß man
ihnen ein Gesangbuch und ein schwarzes Tuch unter das Kopfkissen legt, und
bei Geier zahnen die Kinder leichter, wenn man sie im ersten Lebensjahre zu
einem Fleischer trägt und ihnen von diesem das Zahnfleisch mit dem Blute
eines frischgeschlachtetcn Kalbes bestreichen laßt.

Daß die Liebe der Geschlechter wie überall auch im Erzgebirge von jeher
ein Gebiet gewesen, wo der Aberglaube sich Hütten baut, sahen wir schon bei
den Zaubergebräuchen des Andreastages. Hier noch Einiges von dem, was
Brautleute zu thun und zu lassen haben, um glücklich zu werden und Schaden
zu meiden. Wie im größten Theile Deutschlands so darf auch im Erzgebirge


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[0445] Volksbranch und Averglaube im Erzgebirge. 3. Um Gebal, Taufe und Erziehung der Kinder hat sich allerlei Aberglaube angesetzt, der zum Theil recht wunderlich ist. Eine Frau in andern Umständen darf nicht essend vor dem Brodschrank stehen, weil dann ihr Kind „die Mitesser" bekommt. Die Zukunft des Kindes bestimmt, wie überall unter den Altgläu¬ bigen in Deutschland, das Himmelszeiehen, unter dem es geboren wird. Die Pathen müssen bei der Taufe frische Wäsche tragen, sonst wird das Kind un¬ sauber. Wer den Pathenbrief bei sich führt, darf kein Messer bei sich tragen, sonst wird das Kind ein Selbstmörder, auch keinen Schlüssel, sonst bekommt es ein verschlossenes Gemüth. Dem Säugling, der auf dem Arme seiner Mutter bei den Nachbarn und Verwandten seinen ersten Besuch macht, werden drei frische Eier geschenkt, damit er leicht sprechen lerne. Beim Entwöhnen giebt man dem Kinde ein langes rothseidnes Band, was im Volksmunde „den Zitz verkaufen" heißt und wahrscheinlich eine magische Vorsichtsmaßregel gegen das Beschrienwerdcn ist. Wer die leere Wiege schaukelt, raubt dem Kinde die Ruhe oder bewirkt, wie Andere meinen, daß bald wieder ein Kind ankommt. Der erste Brei darf dem Kinde nicht geblasen werden, damit es sich nicht einst den Mund mit heißer Suppe verbrenne. Vor Ablauf des ersten Jahres soll man es nicht in den Spiegel sehen lassen, weil es sonst eitel wird, ihm die Nägel nicht abschneiden, weil man ihm damit sein Glück abschneidet, es nicht an Blu¬ men riechen lassen, weil ihm dies den Geruch benimmt, es nicht durch ein Fenster in ein Zimmer reichen, ohne es auf demselben Wege zurückzunehmen, weil es sonst „sitzen bleibt", d. h. nicht mehr wächst, was auch dann stattfindet, wenn zwei Kinder unter einem Jahre sich küssen. Kinder, welche „gokeln", d. h. mit Feuer oder Licht spielen, nässen das Bett, wie allgemein im Sächsi¬ schen. Gegen Krämpfe schützt man die Kinder in Geiersdorf dadurch, daß man ihnen ein Gesangbuch und ein schwarzes Tuch unter das Kopfkissen legt, und bei Geier zahnen die Kinder leichter, wenn man sie im ersten Lebensjahre zu einem Fleischer trägt und ihnen von diesem das Zahnfleisch mit dem Blute eines frischgeschlachtetcn Kalbes bestreichen laßt. Daß die Liebe der Geschlechter wie überall auch im Erzgebirge von jeher ein Gebiet gewesen, wo der Aberglaube sich Hütten baut, sahen wir schon bei den Zaubergebräuchen des Andreastages. Hier noch Einiges von dem, was Brautleute zu thun und zu lassen haben, um glücklich zu werden und Schaden zu meiden. Wie im größten Theile Deutschlands so darf auch im Erzgebirge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/445>, abgerufen am 28.09.2024.