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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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lungen, welche von verschiedenen Seiten her mit wachsender Bestimmtheit die
Tendenz verfolgen, dem religiösen und sittlichen Leben alles Particularistische,
Beschränkte abzustreifen, und den Menschen ohne Unterschied von Geburt und
Nationalität, von Rang und Stand, von Arm und Reich auf die in allen
vorhandene Selbstgcwißhcit der sittlichen Natur zurückzuführen, als denjenigen
Punkt, wo das individuelle Leben sich am unmittelbarsten mit dem allgemei¬
nen, das Menschliche mit dem Göttlichen berührt. Das Ziel dieser Entwick¬
lungen, ihr natürlicher Abschluß ist das Christenthum. In "ihm erscheint das¬
jenige vollendet, mit Klarheit ausgesprochen, was bisher nur fortgesetztes
Ringen und immer noch nicht völlig im Stande gewesen war. alles Particula-
ristische von sich auszuscheiden. Das neue Princip hatte sich schon in den Sy¬
stemen der griechischen Philosophie angekündigt, aber in philosophische Formen
gebannt, konnte es immer nur Eigenthum weniger Gebildeten sein und unter¬
lag dem Wechsel und Zweifel der sich folgenden Systeme. Es erschien in der
Sehnsucht des israelitischen Volks nach einem Retter aus der Noth, aber es
blieb hier gebunden an die nationalen Vorurtheile des Stamms, Es durch¬
drang die praktische Richtung der Essäer, aber es war hier wieder verdunkelt
durch die Ceremonien der Sekte und eine auf dualistischer Weltanschauung ge¬
gründete Askese. Es versuchte sich in der Religivnsmengerei der Alexandriner,
aber es vermochte hier nur die künstliche, gelehrte Umdeutung der alten Neli-
givnsvvrstellungen, nicht deren Beseitigung zu bewirken. Dennoch ist der ge¬
meinsame Zug unverkennbar, der diese verschiedenen Richtungen dem Punkte
zuführt, auf welchem sie, vollends befreit von den ihnen anhaftenden Einsei-
tigkeiten, sich zur Einheit zusammenschlossen. Gerade dieser Zug nach Einheit
lag in der ganzen Richtung der Zeit. Aber man suchte den Einheitspunkt ver¬
gebens auf dem Wege, daß man das Verschiedenartige mischte, das Besondere
durch künstliche Auslegung neutralisirte, wie es die Eklektiker, die Neuplatoni-
ker, die Alexandriner thaten. Die wahre Einheit konnte nur gefunden werden
durch die volle Consequenz des Princips, das in jenen Entwicklungen das trei¬
bende Motiv gewesen war, durch die Beseitigung aller Schranken, welche zwi¬
schen das religiöse Gemüth und Gott sich eingedrängt hatten, durch das Zurück¬
gehen auf die reine Quelle aller Religiosität und Sittlichkeit: die unmittelbare
Selbstbezeugung Gottes im menschlichen Gewissen. Dies ist die epochemachende
Bedeutung des Christenthums. Damit schloß es die bisherigen Bildungen ab,
cbendamit begründete es eine neue Weltanschauung. Fürwahr, das wäre das
größte Wunder, wenn es noch eines ganz besonderen Wunders bedurft hätte,
um die Blüthe hervorzutreiben aus den Knospen, die sich überall am Baume
der Menschheit angesetzt hatten.

Denn was ist denn nun der eigentliche Kern der ursprünglichen Lehre
Jesu, wie sie uns aus den zuverlässigsten Quellen entgegentritt? Freilich, wenn


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lungen, welche von verschiedenen Seiten her mit wachsender Bestimmtheit die
Tendenz verfolgen, dem religiösen und sittlichen Leben alles Particularistische,
Beschränkte abzustreifen, und den Menschen ohne Unterschied von Geburt und
Nationalität, von Rang und Stand, von Arm und Reich auf die in allen
vorhandene Selbstgcwißhcit der sittlichen Natur zurückzuführen, als denjenigen
Punkt, wo das individuelle Leben sich am unmittelbarsten mit dem allgemei¬
nen, das Menschliche mit dem Göttlichen berührt. Das Ziel dieser Entwick¬
lungen, ihr natürlicher Abschluß ist das Christenthum. In "ihm erscheint das¬
jenige vollendet, mit Klarheit ausgesprochen, was bisher nur fortgesetztes
Ringen und immer noch nicht völlig im Stande gewesen war. alles Particula-
ristische von sich auszuscheiden. Das neue Princip hatte sich schon in den Sy¬
stemen der griechischen Philosophie angekündigt, aber in philosophische Formen
gebannt, konnte es immer nur Eigenthum weniger Gebildeten sein und unter¬
lag dem Wechsel und Zweifel der sich folgenden Systeme. Es erschien in der
Sehnsucht des israelitischen Volks nach einem Retter aus der Noth, aber es
blieb hier gebunden an die nationalen Vorurtheile des Stamms, Es durch¬
drang die praktische Richtung der Essäer, aber es war hier wieder verdunkelt
durch die Ceremonien der Sekte und eine auf dualistischer Weltanschauung ge¬
gründete Askese. Es versuchte sich in der Religivnsmengerei der Alexandriner,
aber es vermochte hier nur die künstliche, gelehrte Umdeutung der alten Neli-
givnsvvrstellungen, nicht deren Beseitigung zu bewirken. Dennoch ist der ge¬
meinsame Zug unverkennbar, der diese verschiedenen Richtungen dem Punkte
zuführt, auf welchem sie, vollends befreit von den ihnen anhaftenden Einsei-
tigkeiten, sich zur Einheit zusammenschlossen. Gerade dieser Zug nach Einheit
lag in der ganzen Richtung der Zeit. Aber man suchte den Einheitspunkt ver¬
gebens auf dem Wege, daß man das Verschiedenartige mischte, das Besondere
durch künstliche Auslegung neutralisirte, wie es die Eklektiker, die Neuplatoni-
ker, die Alexandriner thaten. Die wahre Einheit konnte nur gefunden werden
durch die volle Consequenz des Princips, das in jenen Entwicklungen das trei¬
bende Motiv gewesen war, durch die Beseitigung aller Schranken, welche zwi¬
schen das religiöse Gemüth und Gott sich eingedrängt hatten, durch das Zurück¬
gehen auf die reine Quelle aller Religiosität und Sittlichkeit: die unmittelbare
Selbstbezeugung Gottes im menschlichen Gewissen. Dies ist die epochemachende
Bedeutung des Christenthums. Damit schloß es die bisherigen Bildungen ab,
cbendamit begründete es eine neue Weltanschauung. Fürwahr, das wäre das
größte Wunder, wenn es noch eines ganz besonderen Wunders bedurft hätte,
um die Blüthe hervorzutreiben aus den Knospen, die sich überall am Baume
der Menschheit angesetzt hatten.

Denn was ist denn nun der eigentliche Kern der ursprünglichen Lehre
Jesu, wie sie uns aus den zuverlässigsten Quellen entgegentritt? Freilich, wenn


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[0427] lungen, welche von verschiedenen Seiten her mit wachsender Bestimmtheit die Tendenz verfolgen, dem religiösen und sittlichen Leben alles Particularistische, Beschränkte abzustreifen, und den Menschen ohne Unterschied von Geburt und Nationalität, von Rang und Stand, von Arm und Reich auf die in allen vorhandene Selbstgcwißhcit der sittlichen Natur zurückzuführen, als denjenigen Punkt, wo das individuelle Leben sich am unmittelbarsten mit dem allgemei¬ nen, das Menschliche mit dem Göttlichen berührt. Das Ziel dieser Entwick¬ lungen, ihr natürlicher Abschluß ist das Christenthum. In "ihm erscheint das¬ jenige vollendet, mit Klarheit ausgesprochen, was bisher nur fortgesetztes Ringen und immer noch nicht völlig im Stande gewesen war. alles Particula- ristische von sich auszuscheiden. Das neue Princip hatte sich schon in den Sy¬ stemen der griechischen Philosophie angekündigt, aber in philosophische Formen gebannt, konnte es immer nur Eigenthum weniger Gebildeten sein und unter¬ lag dem Wechsel und Zweifel der sich folgenden Systeme. Es erschien in der Sehnsucht des israelitischen Volks nach einem Retter aus der Noth, aber es blieb hier gebunden an die nationalen Vorurtheile des Stamms, Es durch¬ drang die praktische Richtung der Essäer, aber es war hier wieder verdunkelt durch die Ceremonien der Sekte und eine auf dualistischer Weltanschauung ge¬ gründete Askese. Es versuchte sich in der Religivnsmengerei der Alexandriner, aber es vermochte hier nur die künstliche, gelehrte Umdeutung der alten Neli- givnsvvrstellungen, nicht deren Beseitigung zu bewirken. Dennoch ist der ge¬ meinsame Zug unverkennbar, der diese verschiedenen Richtungen dem Punkte zuführt, auf welchem sie, vollends befreit von den ihnen anhaftenden Einsei- tigkeiten, sich zur Einheit zusammenschlossen. Gerade dieser Zug nach Einheit lag in der ganzen Richtung der Zeit. Aber man suchte den Einheitspunkt ver¬ gebens auf dem Wege, daß man das Verschiedenartige mischte, das Besondere durch künstliche Auslegung neutralisirte, wie es die Eklektiker, die Neuplatoni- ker, die Alexandriner thaten. Die wahre Einheit konnte nur gefunden werden durch die volle Consequenz des Princips, das in jenen Entwicklungen das trei¬ bende Motiv gewesen war, durch die Beseitigung aller Schranken, welche zwi¬ schen das religiöse Gemüth und Gott sich eingedrängt hatten, durch das Zurück¬ gehen auf die reine Quelle aller Religiosität und Sittlichkeit: die unmittelbare Selbstbezeugung Gottes im menschlichen Gewissen. Dies ist die epochemachende Bedeutung des Christenthums. Damit schloß es die bisherigen Bildungen ab, cbendamit begründete es eine neue Weltanschauung. Fürwahr, das wäre das größte Wunder, wenn es noch eines ganz besonderen Wunders bedurft hätte, um die Blüthe hervorzutreiben aus den Knospen, die sich überall am Baume der Menschheit angesetzt hatten. Denn was ist denn nun der eigentliche Kern der ursprünglichen Lehre Jesu, wie sie uns aus den zuverlässigsten Quellen entgegentritt? Freilich, wenn 53*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/427>, abgerufen am 28.09.2024.