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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Wie das Heidenthum von der ethischen Seite, so war das Judenthum
Von der religiösen Seite die Vorbereitung für das Christenthum. Die Juden
hatten vor der Heidenwelt den Vorzug, daß sie einen geläuterten, monotheistischen
Gottesbegriff hatten. Nur brachte der Umstand, daß sie diese Erkenntniß wie
eine Mitgift besaßen, ohne sie durch eigene Geistesarbeit sich errungen zusahen,
eine doppelte Einseitigkeit mit sich. Zwischen dem religiösen und dem sittlichen
Gebiet blieb eine Kluft, die durch die Verehrung des Einen Gottes nicht aus¬
gefüllt wurde. Vielmehr nahm eben die Gottesverehrung eine Form an, bei
welcher das Hauptgewicht auf die Befolgung äußerer gesetzlicher Vorschriften
fiel. Durch die Erfüllung des Gesetzes Gott genug zu thun, ihn für begangnes
Unrecht zu versöhnen und für die Zukunft gnädig zu stimmen, dies war das
Hauptinteresse der Gottesverehrung. Daß der Jude el" Gesetz hatte, dessen
Befolgung ihn vor dem gerechten Gott selbst gerecht machte und ihm einen be¬
sonderen Anspruch auf göttlichen Schutz erwarb, dies war sein Hauptstolz gegen¬
über den anderen Nationen; und dies ist zugleich die andere Einseitigkeit, in
welche er verfiel: seine Exclusivität gegenüber den anderen Völkern, das Be¬
schränkte. Nationale seiner Gottesidee. das Particularistische seiner ganzen Welt¬
anschauung. Zwar' hatten schon in früheren Zeiten die Propheten die mora¬
lischen Forderungen, die aus dem Gesetz flössen, dem Volk eindringlich ans
Herz gelegt, und die Berührungen, i" welche seit dem babylonische" Exil die
Jsraeliten mit fremden Völkern kamen, hatten auch ihre Exclusivität auf¬
zuweichen begonnen und fremden Neligionsvorstcllungen Eingang verschafft.
Allein eben infolge der harten Schicksale dieser Zeit trat eine Reaction el".
Das officielle Judenthum, um sich zu behaupten gegen politische Vergewal¬
tigung und Absorption, hielt um so strenger an seiner nationalen Besonder¬
heit, an seinen Vorurtheilen und Satzungen fest, und die Idee eines kommen¬
den Retters, welche in dem Maße ausgebildet und glänzend ausgeschmückt
wurde, je ernster sich die Geschicke des Volkes zusammenzogen, behielt, obwohl
es ihr nicht an moralischen Elemente" fehlte, doch in der Hauptsache jenes starr
nationale Gepräge. Ein König von der Art Davids wurde erwartet, der die
Heidenwelt vernichten oder zu den Füßen des auserwählten Volkes legen und
das wahre theokratische Reich herstellen sollte. Allein diese Neactionsversuche
konnten den Verfall der jüdischen Religion nicht aufhalten. Die Pharisäer,
welche -- obwohl die Demokraten gegenüber der herrschenden Hierarchie -- am
schroffsten den national-particularistischen Standpunkt festhielten und das Gesetz
noch mit einem "Zaun" rabbinischer Zusätze umgaben, waren doch nur eine
Partei, und ihnen standen andere Parteien gegenüber, welche freier über reli¬
giöse Dinge dachte", weniger ausschließend gegen fremde Einflüsse sich verhielten
und über die nationalen Vorurtheile hinwegsehend Sittlichkeit des Wandels
höher stellten als die Befolgung des Gesetzes.


Grenzboten III. 1864. 83

Wie das Heidenthum von der ethischen Seite, so war das Judenthum
Von der religiösen Seite die Vorbereitung für das Christenthum. Die Juden
hatten vor der Heidenwelt den Vorzug, daß sie einen geläuterten, monotheistischen
Gottesbegriff hatten. Nur brachte der Umstand, daß sie diese Erkenntniß wie
eine Mitgift besaßen, ohne sie durch eigene Geistesarbeit sich errungen zusahen,
eine doppelte Einseitigkeit mit sich. Zwischen dem religiösen und dem sittlichen
Gebiet blieb eine Kluft, die durch die Verehrung des Einen Gottes nicht aus¬
gefüllt wurde. Vielmehr nahm eben die Gottesverehrung eine Form an, bei
welcher das Hauptgewicht auf die Befolgung äußerer gesetzlicher Vorschriften
fiel. Durch die Erfüllung des Gesetzes Gott genug zu thun, ihn für begangnes
Unrecht zu versöhnen und für die Zukunft gnädig zu stimmen, dies war das
Hauptinteresse der Gottesverehrung. Daß der Jude el» Gesetz hatte, dessen
Befolgung ihn vor dem gerechten Gott selbst gerecht machte und ihm einen be¬
sonderen Anspruch auf göttlichen Schutz erwarb, dies war sein Hauptstolz gegen¬
über den anderen Nationen; und dies ist zugleich die andere Einseitigkeit, in
welche er verfiel: seine Exclusivität gegenüber den anderen Völkern, das Be¬
schränkte. Nationale seiner Gottesidee. das Particularistische seiner ganzen Welt¬
anschauung. Zwar' hatten schon in früheren Zeiten die Propheten die mora¬
lischen Forderungen, die aus dem Gesetz flössen, dem Volk eindringlich ans
Herz gelegt, und die Berührungen, i» welche seit dem babylonische» Exil die
Jsraeliten mit fremden Völkern kamen, hatten auch ihre Exclusivität auf¬
zuweichen begonnen und fremden Neligionsvorstcllungen Eingang verschafft.
Allein eben infolge der harten Schicksale dieser Zeit trat eine Reaction el».
Das officielle Judenthum, um sich zu behaupten gegen politische Vergewal¬
tigung und Absorption, hielt um so strenger an seiner nationalen Besonder¬
heit, an seinen Vorurtheilen und Satzungen fest, und die Idee eines kommen¬
den Retters, welche in dem Maße ausgebildet und glänzend ausgeschmückt
wurde, je ernster sich die Geschicke des Volkes zusammenzogen, behielt, obwohl
es ihr nicht an moralischen Elemente» fehlte, doch in der Hauptsache jenes starr
nationale Gepräge. Ein König von der Art Davids wurde erwartet, der die
Heidenwelt vernichten oder zu den Füßen des auserwählten Volkes legen und
das wahre theokratische Reich herstellen sollte. Allein diese Neactionsversuche
konnten den Verfall der jüdischen Religion nicht aufhalten. Die Pharisäer,
welche — obwohl die Demokraten gegenüber der herrschenden Hierarchie — am
schroffsten den national-particularistischen Standpunkt festhielten und das Gesetz
noch mit einem „Zaun" rabbinischer Zusätze umgaben, waren doch nur eine
Partei, und ihnen standen andere Parteien gegenüber, welche freier über reli¬
giöse Dinge dachte», weniger ausschließend gegen fremde Einflüsse sich verhielten
und über die nationalen Vorurtheile hinwegsehend Sittlichkeit des Wandels
höher stellten als die Befolgung des Gesetzes.


Grenzboten III. 1864. 83
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[0425] Wie das Heidenthum von der ethischen Seite, so war das Judenthum Von der religiösen Seite die Vorbereitung für das Christenthum. Die Juden hatten vor der Heidenwelt den Vorzug, daß sie einen geläuterten, monotheistischen Gottesbegriff hatten. Nur brachte der Umstand, daß sie diese Erkenntniß wie eine Mitgift besaßen, ohne sie durch eigene Geistesarbeit sich errungen zusahen, eine doppelte Einseitigkeit mit sich. Zwischen dem religiösen und dem sittlichen Gebiet blieb eine Kluft, die durch die Verehrung des Einen Gottes nicht aus¬ gefüllt wurde. Vielmehr nahm eben die Gottesverehrung eine Form an, bei welcher das Hauptgewicht auf die Befolgung äußerer gesetzlicher Vorschriften fiel. Durch die Erfüllung des Gesetzes Gott genug zu thun, ihn für begangnes Unrecht zu versöhnen und für die Zukunft gnädig zu stimmen, dies war das Hauptinteresse der Gottesverehrung. Daß der Jude el» Gesetz hatte, dessen Befolgung ihn vor dem gerechten Gott selbst gerecht machte und ihm einen be¬ sonderen Anspruch auf göttlichen Schutz erwarb, dies war sein Hauptstolz gegen¬ über den anderen Nationen; und dies ist zugleich die andere Einseitigkeit, in welche er verfiel: seine Exclusivität gegenüber den anderen Völkern, das Be¬ schränkte. Nationale seiner Gottesidee. das Particularistische seiner ganzen Welt¬ anschauung. Zwar' hatten schon in früheren Zeiten die Propheten die mora¬ lischen Forderungen, die aus dem Gesetz flössen, dem Volk eindringlich ans Herz gelegt, und die Berührungen, i» welche seit dem babylonische» Exil die Jsraeliten mit fremden Völkern kamen, hatten auch ihre Exclusivität auf¬ zuweichen begonnen und fremden Neligionsvorstcllungen Eingang verschafft. Allein eben infolge der harten Schicksale dieser Zeit trat eine Reaction el». Das officielle Judenthum, um sich zu behaupten gegen politische Vergewal¬ tigung und Absorption, hielt um so strenger an seiner nationalen Besonder¬ heit, an seinen Vorurtheilen und Satzungen fest, und die Idee eines kommen¬ den Retters, welche in dem Maße ausgebildet und glänzend ausgeschmückt wurde, je ernster sich die Geschicke des Volkes zusammenzogen, behielt, obwohl es ihr nicht an moralischen Elemente» fehlte, doch in der Hauptsache jenes starr nationale Gepräge. Ein König von der Art Davids wurde erwartet, der die Heidenwelt vernichten oder zu den Füßen des auserwählten Volkes legen und das wahre theokratische Reich herstellen sollte. Allein diese Neactionsversuche konnten den Verfall der jüdischen Religion nicht aufhalten. Die Pharisäer, welche — obwohl die Demokraten gegenüber der herrschenden Hierarchie — am schroffsten den national-particularistischen Standpunkt festhielten und das Gesetz noch mit einem „Zaun" rabbinischer Zusätze umgaben, waren doch nur eine Partei, und ihnen standen andere Parteien gegenüber, welche freier über reli¬ giöse Dinge dachte», weniger ausschließend gegen fremde Einflüsse sich verhielten und über die nationalen Vorurtheile hinwegsehend Sittlichkeit des Wandels höher stellten als die Befolgung des Gesetzes. Grenzboten III. 1864. 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/425>, abgerufen am 28.09.2024.