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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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lire hatte. Der Oberhofprediger Jahr behauptete sich nacb wie vor auf der
Kanzel der großherzoglichen Schloßkapelle, die Staatsminister v. Oertzen und
v. Schröter erschienen, der Einladung des Großherzogs folgend, während der
rostocker Festlichkeiten an der Seite ihres Gebieters und zerstörten dadurch das
Ansehen der Fabel von einem zu erwartenden Ministerwechsel auf das Gründ¬
lichste, die Verordnung wegen der körperlichen Züchtigung hat sich bis auf die¬
sen Tag in ungeschwüchter Kraft und Uebung erhalten. Aber die Gerüchte
hatten doch inzwischen ihre guten Dienste gethan.

Alles legte sich immer mehr so an, daß wenigstens der Schein erweckt
werden mußte, als hätten die Rostocker jedes ernsten Gedankens an die poli¬
tische Lage des Landes bei den Vorbereitungen auf den Festjubel sich entschlagen
und sich wie bewußtlos einer patriarchalischen Gcfühlsstimmung hingegeben.
Daß in den einzelnen Handwerksämtern, unter Meistern und Gesellen, es doch
noch viele gab, welche sich nicht zur Theilnahme an den Aufzügen bereit finden
ließen, daß der Männerturnverein sich mit 88 gegen 23 Stimmen für voll¬
ständige Enthaltung von der Mitwirkung entschied, waren allerdings beachtens-
werthe Zeichen einer der allgemeinen Strömung widerstrebenden, dissentirenden
Ansicht; diese Zeichen aber traten ihrer Natur nach äußerlich wenig in den
Vordergrund und entbehrten eines erklärenden, in die Oeffentlichkeit dringen¬
den Wortes.

Indessen war doch von einigen Männern der liberalen Richtung dafür
Sorge getragen worden, daß es an einem öffentlichen Ausdruck des politischen
Ehr- und Pflichtgefühls nicht fehlen und der Anhang der Minister nicht den
Triumph haben sollte, sich auf die allgemeine Zufriedenheit mit den seit vier¬
zehn Jahren leitenden Regierungsgrundsätzen berufen zu können.

In Coburg bei Streit gedruckt und von dort an viele Hunderte von
Adressen in Rostock unter Kreuzband abgesandt, erschien am 18. Juli, acht
Tage vor dem Beginn der Einzugsfestlichkeiten, eine Ansprache an die Bürger
Rostocks. In kurzer und hurtiger Form werden darin die gerechten Beschwerden
der Rostocker und Mecklenburger gegen das herrschende Regierungssystem zu¬
sammengestellt und die politischen und socialen Verhältnisse des Landes, welche
die Folge jenes Systems sind, geschildert. Den Schluß bildet die nachstehende
eindringliche Mahnung:


"Bürger Rostocks!

"Es ist nicht möglich, daß ihr über alle diese traurigen und finsteren Dinge
mit eurem Festjubel heiteren Blickes und schweigenden Mundes hinweggeht,
wenn der Fürst in eure Mitte tritt.

"Zwar richtet sich nicht gegen den Fürsten, sondern lediglich gegen diejenigen,


lire hatte. Der Oberhofprediger Jahr behauptete sich nacb wie vor auf der
Kanzel der großherzoglichen Schloßkapelle, die Staatsminister v. Oertzen und
v. Schröter erschienen, der Einladung des Großherzogs folgend, während der
rostocker Festlichkeiten an der Seite ihres Gebieters und zerstörten dadurch das
Ansehen der Fabel von einem zu erwartenden Ministerwechsel auf das Gründ¬
lichste, die Verordnung wegen der körperlichen Züchtigung hat sich bis auf die¬
sen Tag in ungeschwüchter Kraft und Uebung erhalten. Aber die Gerüchte
hatten doch inzwischen ihre guten Dienste gethan.

Alles legte sich immer mehr so an, daß wenigstens der Schein erweckt
werden mußte, als hätten die Rostocker jedes ernsten Gedankens an die poli¬
tische Lage des Landes bei den Vorbereitungen auf den Festjubel sich entschlagen
und sich wie bewußtlos einer patriarchalischen Gcfühlsstimmung hingegeben.
Daß in den einzelnen Handwerksämtern, unter Meistern und Gesellen, es doch
noch viele gab, welche sich nicht zur Theilnahme an den Aufzügen bereit finden
ließen, daß der Männerturnverein sich mit 88 gegen 23 Stimmen für voll¬
ständige Enthaltung von der Mitwirkung entschied, waren allerdings beachtens-
werthe Zeichen einer der allgemeinen Strömung widerstrebenden, dissentirenden
Ansicht; diese Zeichen aber traten ihrer Natur nach äußerlich wenig in den
Vordergrund und entbehrten eines erklärenden, in die Oeffentlichkeit dringen¬
den Wortes.

Indessen war doch von einigen Männern der liberalen Richtung dafür
Sorge getragen worden, daß es an einem öffentlichen Ausdruck des politischen
Ehr- und Pflichtgefühls nicht fehlen und der Anhang der Minister nicht den
Triumph haben sollte, sich auf die allgemeine Zufriedenheit mit den seit vier¬
zehn Jahren leitenden Regierungsgrundsätzen berufen zu können.

In Coburg bei Streit gedruckt und von dort an viele Hunderte von
Adressen in Rostock unter Kreuzband abgesandt, erschien am 18. Juli, acht
Tage vor dem Beginn der Einzugsfestlichkeiten, eine Ansprache an die Bürger
Rostocks. In kurzer und hurtiger Form werden darin die gerechten Beschwerden
der Rostocker und Mecklenburger gegen das herrschende Regierungssystem zu¬
sammengestellt und die politischen und socialen Verhältnisse des Landes, welche
die Folge jenes Systems sind, geschildert. Den Schluß bildet die nachstehende
eindringliche Mahnung:


„Bürger Rostocks!

„Es ist nicht möglich, daß ihr über alle diese traurigen und finsteren Dinge
mit eurem Festjubel heiteren Blickes und schweigenden Mundes hinweggeht,
wenn der Fürst in eure Mitte tritt.

„Zwar richtet sich nicht gegen den Fürsten, sondern lediglich gegen diejenigen,


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[0309] lire hatte. Der Oberhofprediger Jahr behauptete sich nacb wie vor auf der Kanzel der großherzoglichen Schloßkapelle, die Staatsminister v. Oertzen und v. Schröter erschienen, der Einladung des Großherzogs folgend, während der rostocker Festlichkeiten an der Seite ihres Gebieters und zerstörten dadurch das Ansehen der Fabel von einem zu erwartenden Ministerwechsel auf das Gründ¬ lichste, die Verordnung wegen der körperlichen Züchtigung hat sich bis auf die¬ sen Tag in ungeschwüchter Kraft und Uebung erhalten. Aber die Gerüchte hatten doch inzwischen ihre guten Dienste gethan. Alles legte sich immer mehr so an, daß wenigstens der Schein erweckt werden mußte, als hätten die Rostocker jedes ernsten Gedankens an die poli¬ tische Lage des Landes bei den Vorbereitungen auf den Festjubel sich entschlagen und sich wie bewußtlos einer patriarchalischen Gcfühlsstimmung hingegeben. Daß in den einzelnen Handwerksämtern, unter Meistern und Gesellen, es doch noch viele gab, welche sich nicht zur Theilnahme an den Aufzügen bereit finden ließen, daß der Männerturnverein sich mit 88 gegen 23 Stimmen für voll¬ ständige Enthaltung von der Mitwirkung entschied, waren allerdings beachtens- werthe Zeichen einer der allgemeinen Strömung widerstrebenden, dissentirenden Ansicht; diese Zeichen aber traten ihrer Natur nach äußerlich wenig in den Vordergrund und entbehrten eines erklärenden, in die Oeffentlichkeit dringen¬ den Wortes. Indessen war doch von einigen Männern der liberalen Richtung dafür Sorge getragen worden, daß es an einem öffentlichen Ausdruck des politischen Ehr- und Pflichtgefühls nicht fehlen und der Anhang der Minister nicht den Triumph haben sollte, sich auf die allgemeine Zufriedenheit mit den seit vier¬ zehn Jahren leitenden Regierungsgrundsätzen berufen zu können. In Coburg bei Streit gedruckt und von dort an viele Hunderte von Adressen in Rostock unter Kreuzband abgesandt, erschien am 18. Juli, acht Tage vor dem Beginn der Einzugsfestlichkeiten, eine Ansprache an die Bürger Rostocks. In kurzer und hurtiger Form werden darin die gerechten Beschwerden der Rostocker und Mecklenburger gegen das herrschende Regierungssystem zu¬ sammengestellt und die politischen und socialen Verhältnisse des Landes, welche die Folge jenes Systems sind, geschildert. Den Schluß bildet die nachstehende eindringliche Mahnung: „Bürger Rostocks! „Es ist nicht möglich, daß ihr über alle diese traurigen und finsteren Dinge mit eurem Festjubel heiteren Blickes und schweigenden Mundes hinweggeht, wenn der Fürst in eure Mitte tritt. „Zwar richtet sich nicht gegen den Fürsten, sondern lediglich gegen diejenigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/309>, abgerufen am 28.09.2024.