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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Gipfel des Argäus in Kappadocien bestiegen, obwohl man Von dort den präch¬
tigen Anblick zweier Meere hatte. Nur der Aetna wurde von den höhern
Bergen häusig besucht, doch offenbar nicht der Aussicht, sondern der vulkanischen
Natur desselben halber und wegen der Curiosität, daß sich hier in unmittelbarer
Nahe des feuerspeienden Kraters ungeheure Schneefelder befanden.

Das Gefallen an romantischen, d. h. an wilden und furchtbar großartigen
Naturscenen ist heutzutage so verbreitet, baß man den gänzlichen Mangel
desselben für eine Eigenthümlichkeit des antiken Naturgefühls im Gegensatz zu
dem modernen gehalten hat. Der Verfasser widerspricht dem und belegt mit
mehren Beispielen aus der deutschen und englischen Literatur, daß nicht blos
das Alterthum fast allein das Fruchtbare, Frische und gemüthlich Bewohnbare
anziehend in der Landschaft fand, sondern daß wahrscheinlich auch das Mittel-
alter und gewiß die neuere Zeit noch zum großen Theil ebenso fühlte und
dachte; "denn wenn auch die erste Entstehung und allmächtige Entwickelung
dieses Gefühls (der Verfasser meint das Gefallen an wildromantischen Land¬
schaften) in frühere Zeitalter hinaufreicht, so ist doch seine allgemeine Verbreitung
sicher nicht viel über ein Jahrhundert alt."

"Eine solche Erweiterung, ja Umgestaltung des Naturgefühls." fährt er
fort, "konnte nur aus einem wesentlich veränderten Verhältniß der Menschen
zur Natur hervorgehen. Diese Veränderung war eine zweifache. Einerseits
ahnt die moderne Betrachtung in der Natur eine Seele, von der die menschliche
nur ein Theil oder der sie doch innig verwandt ist. Darum erblickt sie in den
unendlich mannigfaltigen Erscheinungen der Sinnenwelt Spiegelbilder ihrer eignen
wechselnden Zustände; sie meint die Sprache der Natur belauschen und verstehen
zu können. Sie sucht und findet in ihrer immer gleichen Stille, Reinheit und
Größe eine stets bereite Zuflucht vor dem Gewühl, dem Schmutz und der
Kleinlichkeit des menschlichen Daseins. Es ist bekannt, wie sehr, besonders
seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, die Naturbetrachtung durch diese
subjective Auffassung bestimmt worden ist, und wie diese neueste Zeit sich gerade
in die Erscheinungen und Scenen mit Vorliebe versenkt hat, die zu ihren
titanischen Gefühlen, zu ihrer namenlosen Sehnsucht, zu ihrer Lust an Schmerz,
Zerrissenheit und Verzweiflung zu stimmen scheinen. So fremd, wie diese
subjective Betrachtung dem Alterthum war und bleiben mußte, so fremd war
ihm auch die ästhetische, die in der Landschaft ein von der Natur gleichsam in
künstlerischer Absicht geschaffenes und mit einer bestimmten Individualität be¬
gabtes und beseeltes Ganze sieht. Auch diese Betrachtungsweise ist eine sehr
moderne, wenigstens hat die auf ihr beruhende Landschaftsmalerei sich als selbst¬
ständig darstellende Kunst erst im siebzehnten Jahrhundert entwickelt. Das
Alterthum hat keine Landschaftsmalerei im modernen Sinne und keine ästhetische


Gipfel des Argäus in Kappadocien bestiegen, obwohl man Von dort den präch¬
tigen Anblick zweier Meere hatte. Nur der Aetna wurde von den höhern
Bergen häusig besucht, doch offenbar nicht der Aussicht, sondern der vulkanischen
Natur desselben halber und wegen der Curiosität, daß sich hier in unmittelbarer
Nahe des feuerspeienden Kraters ungeheure Schneefelder befanden.

Das Gefallen an romantischen, d. h. an wilden und furchtbar großartigen
Naturscenen ist heutzutage so verbreitet, baß man den gänzlichen Mangel
desselben für eine Eigenthümlichkeit des antiken Naturgefühls im Gegensatz zu
dem modernen gehalten hat. Der Verfasser widerspricht dem und belegt mit
mehren Beispielen aus der deutschen und englischen Literatur, daß nicht blos
das Alterthum fast allein das Fruchtbare, Frische und gemüthlich Bewohnbare
anziehend in der Landschaft fand, sondern daß wahrscheinlich auch das Mittel-
alter und gewiß die neuere Zeit noch zum großen Theil ebenso fühlte und
dachte; „denn wenn auch die erste Entstehung und allmächtige Entwickelung
dieses Gefühls (der Verfasser meint das Gefallen an wildromantischen Land¬
schaften) in frühere Zeitalter hinaufreicht, so ist doch seine allgemeine Verbreitung
sicher nicht viel über ein Jahrhundert alt."

„Eine solche Erweiterung, ja Umgestaltung des Naturgefühls." fährt er
fort, „konnte nur aus einem wesentlich veränderten Verhältniß der Menschen
zur Natur hervorgehen. Diese Veränderung war eine zweifache. Einerseits
ahnt die moderne Betrachtung in der Natur eine Seele, von der die menschliche
nur ein Theil oder der sie doch innig verwandt ist. Darum erblickt sie in den
unendlich mannigfaltigen Erscheinungen der Sinnenwelt Spiegelbilder ihrer eignen
wechselnden Zustände; sie meint die Sprache der Natur belauschen und verstehen
zu können. Sie sucht und findet in ihrer immer gleichen Stille, Reinheit und
Größe eine stets bereite Zuflucht vor dem Gewühl, dem Schmutz und der
Kleinlichkeit des menschlichen Daseins. Es ist bekannt, wie sehr, besonders
seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, die Naturbetrachtung durch diese
subjective Auffassung bestimmt worden ist, und wie diese neueste Zeit sich gerade
in die Erscheinungen und Scenen mit Vorliebe versenkt hat, die zu ihren
titanischen Gefühlen, zu ihrer namenlosen Sehnsucht, zu ihrer Lust an Schmerz,
Zerrissenheit und Verzweiflung zu stimmen scheinen. So fremd, wie diese
subjective Betrachtung dem Alterthum war und bleiben mußte, so fremd war
ihm auch die ästhetische, die in der Landschaft ein von der Natur gleichsam in
künstlerischer Absicht geschaffenes und mit einer bestimmten Individualität be¬
gabtes und beseeltes Ganze sieht. Auch diese Betrachtungsweise ist eine sehr
moderne, wenigstens hat die auf ihr beruhende Landschaftsmalerei sich als selbst¬
ständig darstellende Kunst erst im siebzehnten Jahrhundert entwickelt. Das
Alterthum hat keine Landschaftsmalerei im modernen Sinne und keine ästhetische


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[0304] Gipfel des Argäus in Kappadocien bestiegen, obwohl man Von dort den präch¬ tigen Anblick zweier Meere hatte. Nur der Aetna wurde von den höhern Bergen häusig besucht, doch offenbar nicht der Aussicht, sondern der vulkanischen Natur desselben halber und wegen der Curiosität, daß sich hier in unmittelbarer Nahe des feuerspeienden Kraters ungeheure Schneefelder befanden. Das Gefallen an romantischen, d. h. an wilden und furchtbar großartigen Naturscenen ist heutzutage so verbreitet, baß man den gänzlichen Mangel desselben für eine Eigenthümlichkeit des antiken Naturgefühls im Gegensatz zu dem modernen gehalten hat. Der Verfasser widerspricht dem und belegt mit mehren Beispielen aus der deutschen und englischen Literatur, daß nicht blos das Alterthum fast allein das Fruchtbare, Frische und gemüthlich Bewohnbare anziehend in der Landschaft fand, sondern daß wahrscheinlich auch das Mittel- alter und gewiß die neuere Zeit noch zum großen Theil ebenso fühlte und dachte; „denn wenn auch die erste Entstehung und allmächtige Entwickelung dieses Gefühls (der Verfasser meint das Gefallen an wildromantischen Land¬ schaften) in frühere Zeitalter hinaufreicht, so ist doch seine allgemeine Verbreitung sicher nicht viel über ein Jahrhundert alt." „Eine solche Erweiterung, ja Umgestaltung des Naturgefühls." fährt er fort, „konnte nur aus einem wesentlich veränderten Verhältniß der Menschen zur Natur hervorgehen. Diese Veränderung war eine zweifache. Einerseits ahnt die moderne Betrachtung in der Natur eine Seele, von der die menschliche nur ein Theil oder der sie doch innig verwandt ist. Darum erblickt sie in den unendlich mannigfaltigen Erscheinungen der Sinnenwelt Spiegelbilder ihrer eignen wechselnden Zustände; sie meint die Sprache der Natur belauschen und verstehen zu können. Sie sucht und findet in ihrer immer gleichen Stille, Reinheit und Größe eine stets bereite Zuflucht vor dem Gewühl, dem Schmutz und der Kleinlichkeit des menschlichen Daseins. Es ist bekannt, wie sehr, besonders seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, die Naturbetrachtung durch diese subjective Auffassung bestimmt worden ist, und wie diese neueste Zeit sich gerade in die Erscheinungen und Scenen mit Vorliebe versenkt hat, die zu ihren titanischen Gefühlen, zu ihrer namenlosen Sehnsucht, zu ihrer Lust an Schmerz, Zerrissenheit und Verzweiflung zu stimmen scheinen. So fremd, wie diese subjective Betrachtung dem Alterthum war und bleiben mußte, so fremd war ihm auch die ästhetische, die in der Landschaft ein von der Natur gleichsam in künstlerischer Absicht geschaffenes und mit einer bestimmten Individualität be¬ gabtes und beseeltes Ganze sieht. Auch diese Betrachtungsweise ist eine sehr moderne, wenigstens hat die auf ihr beruhende Landschaftsmalerei sich als selbst¬ ständig darstellende Kunst erst im siebzehnten Jahrhundert entwickelt. Das Alterthum hat keine Landschaftsmalerei im modernen Sinne und keine ästhetische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/304>, abgerufen am 20.10.2024.