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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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in dem, was er positiv über Strauß hinaus leisten wollte, nicht besonders
glücklich war. Dagegen hat er im Einzelnen treffende kritische Bemerkungen;
namentlich hebt er den Unterschied zwischen dem synoptischen und johanneischen
Christus richtig hervor und macht auf den absichtlichen reflectirten, Charakter
des vierten Evangeliums aufmerksam. Nur entgeht er auch hier wieder den
Consequenzen, auf welche dieses Verhältniß hinteitet. Er unterscheidet nämlich
echte Stücke und unechte Stücke im Johannesevangelium. Zwischen dem er¬
zählenden und dem lehrhaften Theile desselben bestehe ein Unterschied der Dent-
und Anschauungsweise, die sich nur durch die Annahme verschiedener Verfasser
erklären lasse. Da nun die lehrenden Theile offenbare Verwandtschaft mit dem
ersten johanneischen Briefe haben, dessen apostolischer Ursprung angeblich besser
bezeugt ist, so werden diese Theile dem Apostel selbst zugeschrieben, während
die erzählenden Stücke und auch die dialogischen Reden theils wegen ihrer
innern Widersprüche, theils wegen ihres sinnlich-supranaturalistischcn Wunder¬
begriffes von einem späteren Bearbeiter herrühren sollen. Der Apostel Johan¬
nes habe in seinen alten Tagen sich Aufzeichnungen gemacht, theils von eigenen
Betrachtungen über den hingegangener Meister, theils von Reden desselben.
Diese hinterlassenen Stücke habe nach dem Tod des Apostels ein Schüler
theils aus der Erinnerung an seine mündlichen Vorträge, theils aus ander¬
weitiger evangelischer Ueberlieferung zu dem jetzigen Evangelium verarbeitet und
zwar sehr ungeschickt und willkürlich verarbeitet. Da nun aber auch der apo¬
stolische Grundstock vom Ueberarbeiter vielfach verändert sei, und andrerseits
auch im Eingeschvbencn wieder apostolische Bestandtheile sich vorfinden sol¬
len, da ferner doch auch die vom betagten Apostel selbst niedergesehriebenen
Reden Jesu "ach der langen Zeit durch seine eigene Denkweise mitbestimmt,
also nicht unmittelbar authentisch sein sollen, so ergiebt sich leicht, wie wenig
mit dieser künstlichen Hypothese gewonnen wird, die nur aus dem dogmatischen
Motiv, wenigstens einen Theil des Evangeliums als apostolisch zu retten, ent¬
standen ist. Als Weiße von diesen Voraussetzungen daran ging, im Einzelnen
die echten und unechten Bestandtheile zu sondern, passirte es ihm, daß gleich
der Prolog, dieser einheitliche, wohlgeordnete Eingang in das Evangelium in
sieben Stücke zerbröckelte, die abwechselnd von zwei verschiedenen Verfassern her¬
rühren sollten.

Einen anderen, nicht glücklicheren Thcilungsversuch machte Alex. Schweizer,
der von einem Theil der Erzählungen im vierten Evangelium gleichfalls wegen
ihres gesteigerten Wunderbcgriffs und einer niedrigere" Anschauungsweise, die
mit dem sonstigen idealen Charakter des Evangeliums nicht zusammenstimme,
sich zurückgestoßen fand und nun die Entdeckung machte, daß gerade diese
Stücke ihren Schauplatz in Galiläa haben. Daraus folgerte er, daß die
ursprüngliche apostolische Schrift blos die außergaliläischc Wirksamkeit Jesu schil-


Grenzboten II. 1864. 13

in dem, was er positiv über Strauß hinaus leisten wollte, nicht besonders
glücklich war. Dagegen hat er im Einzelnen treffende kritische Bemerkungen;
namentlich hebt er den Unterschied zwischen dem synoptischen und johanneischen
Christus richtig hervor und macht auf den absichtlichen reflectirten, Charakter
des vierten Evangeliums aufmerksam. Nur entgeht er auch hier wieder den
Consequenzen, auf welche dieses Verhältniß hinteitet. Er unterscheidet nämlich
echte Stücke und unechte Stücke im Johannesevangelium. Zwischen dem er¬
zählenden und dem lehrhaften Theile desselben bestehe ein Unterschied der Dent-
und Anschauungsweise, die sich nur durch die Annahme verschiedener Verfasser
erklären lasse. Da nun die lehrenden Theile offenbare Verwandtschaft mit dem
ersten johanneischen Briefe haben, dessen apostolischer Ursprung angeblich besser
bezeugt ist, so werden diese Theile dem Apostel selbst zugeschrieben, während
die erzählenden Stücke und auch die dialogischen Reden theils wegen ihrer
innern Widersprüche, theils wegen ihres sinnlich-supranaturalistischcn Wunder¬
begriffes von einem späteren Bearbeiter herrühren sollen. Der Apostel Johan¬
nes habe in seinen alten Tagen sich Aufzeichnungen gemacht, theils von eigenen
Betrachtungen über den hingegangener Meister, theils von Reden desselben.
Diese hinterlassenen Stücke habe nach dem Tod des Apostels ein Schüler
theils aus der Erinnerung an seine mündlichen Vorträge, theils aus ander¬
weitiger evangelischer Ueberlieferung zu dem jetzigen Evangelium verarbeitet und
zwar sehr ungeschickt und willkürlich verarbeitet. Da nun aber auch der apo¬
stolische Grundstock vom Ueberarbeiter vielfach verändert sei, und andrerseits
auch im Eingeschvbencn wieder apostolische Bestandtheile sich vorfinden sol¬
len, da ferner doch auch die vom betagten Apostel selbst niedergesehriebenen
Reden Jesu »ach der langen Zeit durch seine eigene Denkweise mitbestimmt,
also nicht unmittelbar authentisch sein sollen, so ergiebt sich leicht, wie wenig
mit dieser künstlichen Hypothese gewonnen wird, die nur aus dem dogmatischen
Motiv, wenigstens einen Theil des Evangeliums als apostolisch zu retten, ent¬
standen ist. Als Weiße von diesen Voraussetzungen daran ging, im Einzelnen
die echten und unechten Bestandtheile zu sondern, passirte es ihm, daß gleich
der Prolog, dieser einheitliche, wohlgeordnete Eingang in das Evangelium in
sieben Stücke zerbröckelte, die abwechselnd von zwei verschiedenen Verfassern her¬
rühren sollten.

Einen anderen, nicht glücklicheren Thcilungsversuch machte Alex. Schweizer,
der von einem Theil der Erzählungen im vierten Evangelium gleichfalls wegen
ihres gesteigerten Wunderbcgriffs und einer niedrigere» Anschauungsweise, die
mit dem sonstigen idealen Charakter des Evangeliums nicht zusammenstimme,
sich zurückgestoßen fand und nun die Entdeckung machte, daß gerade diese
Stücke ihren Schauplatz in Galiläa haben. Daraus folgerte er, daß die
ursprüngliche apostolische Schrift blos die außergaliläischc Wirksamkeit Jesu schil-


Grenzboten II. 1864. 13
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/96>, abgerufen am 25.08.2024.