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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Zur Geschichte des UrchristentlMMs.
1, Theologie und Kritik.

Das Christenthum ist einerseits religiöser Glaube, und als solcher hat
es absolute Bedeutung für alle, die sich zu ihm bekennen; es ist andrerseits
Geschichte, und als solche steht es für uns unter dem Gesichtspunkt der ge¬
schichtlichen Erkenntnis;. In diesen beiden Momenten liegt der ganze Widerstreit,
der die theologische Wissenschaft seit ihre" Anfängen bis auf diesen Tag bewegt.
Ja dieser Widerstreit und die Versuche ihn aufzulösen find der eigentliche In¬
halt der Theologie. Wäre das Christenthum blos das Eine oder das Andere,
so wäre eine besondere Wissenschaft der Theologie das Überflüssigste von der
Welt. Wäre es blos Religion, so würde es genügen. ihren Inhalt ein für
alle Mal auszusprechen; wäre es blos Geschichte, so wäre es nie unter einen
andern Gesichtspunkt als den rein geschichtlichen gestellt worden. Daß es beides
zugleich ist, macht eine fortgehende Vermittelung zwischen beiden Momenten
nöthig.

Es liegt in der Natur der Sache, daß hierbei bald die eine bald die andere
Seite überwiegen wird. Es läßt sich ein Standpunkt der Betrachtung denken,
auf welchem der absolute Inhalt der- christlichen Religion als unveränderlich
durch alle Zeit sich glcichblcibcnd festgehalten wird, und ein anderer, auf welchem
er sich auflöst in eine Reihe von Glaubensmeinungen. welche sich mit den
Zeiten und nach den wechselnden Nildungsverhältnissen verändern. Der erste
Standpunkt kommt in Conflict mit dem geschichtlichen, der letztere mit dem
religiösen Charakter des Christenthums. Beides sind Extreme, bei welchen eine
Seite zu kurz kommt. Die Forderung wird also zunächst dahin lauten, beide
Extreme zu vermeiden, indem einerseits der Inhalt des Glaubens in eine wirk¬
liche' geschichtliche Entwicklung hineingezogen, andrerseits doch ein bleibender
Gehalt als Resultat derselben aufgezeigt wird.

Allein wie man sich nun auch das Verhältniß beider Seiten zu einander
näher denken mag, so zeigt sich doch bald, daß auf jedem Punkte das geschicht¬
liche Moment das absolut übergreifende ist. Jede Zeit glaubt, im Besitz der
reinen christlichen Wahrheit zu sein; aber faßte man von irgendeinem Punkte


Grenzboten II. 18K4. 1
Zur Geschichte des UrchristentlMMs.
1, Theologie und Kritik.

Das Christenthum ist einerseits religiöser Glaube, und als solcher hat
es absolute Bedeutung für alle, die sich zu ihm bekennen; es ist andrerseits
Geschichte, und als solche steht es für uns unter dem Gesichtspunkt der ge¬
schichtlichen Erkenntnis;. In diesen beiden Momenten liegt der ganze Widerstreit,
der die theologische Wissenschaft seit ihre» Anfängen bis auf diesen Tag bewegt.
Ja dieser Widerstreit und die Versuche ihn aufzulösen find der eigentliche In¬
halt der Theologie. Wäre das Christenthum blos das Eine oder das Andere,
so wäre eine besondere Wissenschaft der Theologie das Überflüssigste von der
Welt. Wäre es blos Religion, so würde es genügen. ihren Inhalt ein für
alle Mal auszusprechen; wäre es blos Geschichte, so wäre es nie unter einen
andern Gesichtspunkt als den rein geschichtlichen gestellt worden. Daß es beides
zugleich ist, macht eine fortgehende Vermittelung zwischen beiden Momenten
nöthig.

Es liegt in der Natur der Sache, daß hierbei bald die eine bald die andere
Seite überwiegen wird. Es läßt sich ein Standpunkt der Betrachtung denken,
auf welchem der absolute Inhalt der- christlichen Religion als unveränderlich
durch alle Zeit sich glcichblcibcnd festgehalten wird, und ein anderer, auf welchem
er sich auflöst in eine Reihe von Glaubensmeinungen. welche sich mit den
Zeiten und nach den wechselnden Nildungsverhältnissen verändern. Der erste
Standpunkt kommt in Conflict mit dem geschichtlichen, der letztere mit dem
religiösen Charakter des Christenthums. Beides sind Extreme, bei welchen eine
Seite zu kurz kommt. Die Forderung wird also zunächst dahin lauten, beide
Extreme zu vermeiden, indem einerseits der Inhalt des Glaubens in eine wirk¬
liche' geschichtliche Entwicklung hineingezogen, andrerseits doch ein bleibender
Gehalt als Resultat derselben aufgezeigt wird.

Allein wie man sich nun auch das Verhältniß beider Seiten zu einander
näher denken mag, so zeigt sich doch bald, daß auf jedem Punkte das geschicht¬
liche Moment das absolut übergreifende ist. Jede Zeit glaubt, im Besitz der
reinen christlichen Wahrheit zu sein; aber faßte man von irgendeinem Punkte


Grenzboten II. 18K4. 1
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[0009] Zur Geschichte des UrchristentlMMs. 1, Theologie und Kritik. Das Christenthum ist einerseits religiöser Glaube, und als solcher hat es absolute Bedeutung für alle, die sich zu ihm bekennen; es ist andrerseits Geschichte, und als solche steht es für uns unter dem Gesichtspunkt der ge¬ schichtlichen Erkenntnis;. In diesen beiden Momenten liegt der ganze Widerstreit, der die theologische Wissenschaft seit ihre» Anfängen bis auf diesen Tag bewegt. Ja dieser Widerstreit und die Versuche ihn aufzulösen find der eigentliche In¬ halt der Theologie. Wäre das Christenthum blos das Eine oder das Andere, so wäre eine besondere Wissenschaft der Theologie das Überflüssigste von der Welt. Wäre es blos Religion, so würde es genügen. ihren Inhalt ein für alle Mal auszusprechen; wäre es blos Geschichte, so wäre es nie unter einen andern Gesichtspunkt als den rein geschichtlichen gestellt worden. Daß es beides zugleich ist, macht eine fortgehende Vermittelung zwischen beiden Momenten nöthig. Es liegt in der Natur der Sache, daß hierbei bald die eine bald die andere Seite überwiegen wird. Es läßt sich ein Standpunkt der Betrachtung denken, auf welchem der absolute Inhalt der- christlichen Religion als unveränderlich durch alle Zeit sich glcichblcibcnd festgehalten wird, und ein anderer, auf welchem er sich auflöst in eine Reihe von Glaubensmeinungen. welche sich mit den Zeiten und nach den wechselnden Nildungsverhältnissen verändern. Der erste Standpunkt kommt in Conflict mit dem geschichtlichen, der letztere mit dem religiösen Charakter des Christenthums. Beides sind Extreme, bei welchen eine Seite zu kurz kommt. Die Forderung wird also zunächst dahin lauten, beide Extreme zu vermeiden, indem einerseits der Inhalt des Glaubens in eine wirk¬ liche' geschichtliche Entwicklung hineingezogen, andrerseits doch ein bleibender Gehalt als Resultat derselben aufgezeigt wird. Allein wie man sich nun auch das Verhältniß beider Seiten zu einander näher denken mag, so zeigt sich doch bald, daß auf jedem Punkte das geschicht¬ liche Moment das absolut übergreifende ist. Jede Zeit glaubt, im Besitz der reinen christlichen Wahrheit zu sein; aber faßte man von irgendeinem Punkte Grenzboten II. 18K4. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/9>, abgerufen am 23.07.2024.