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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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zurückschauend die ganze Entwickelung des christlichen Bewußtseins zusammen,
so zeigte sich, daß das. was einer Zeit als christlich galt, sehr verschieden.war
von dem. was anderen als solches galt. Es war eine Täuschung, wenn Theo¬
logen irgendwelcher Zeit sich bemühten den Inhalt des Glaubens für alle Zeiten
zu fixiren. Was sie als Lehre des Christenthums in scheinbar absoluter Gil-
tigkeit hinstellten, war doch nur die Art und Weise, wie sie oder ihre Zeit
dieselbe auffaßten, der dann andere Zeiten eine andere Auffassung mit demselben
Anspruch auf absolute Giltigkeit gegenüberstellten. Auch die Unterscheidung
des Inhalts von der bloßen Form half wenig. Denn man konnte sich nicht
verbergen, daß der Wechsel auch den Kern der Glaubensmeinungen nickt ver¬
schonte. Ja man konnte wohl eher umgekehrt sagen: die Form der Dogmen
veränderte sich weit weniger als der Inhalt, welchen man in sie hineinlegte.
Welche Kluft zwischen dem nicänischen Symbol und dem Gebäude der Scholastik,
zwischen Augustin und dem Nationalismus des achtzehnten Jahrhunderts, zwischen
der augsburger Confession und Schleiermachers Glaubenslehre? und nun aller
zusammen mit den unbefangen betrachteten Texten der kanonischen Schriften?
Wo blieb da jener ewig sich selbst gleiche Glaubensinhalt, wenn er sich im
Bewußtsein so verschiedener Zeiten so verschieden reflectirte? Glaubte die Theo¬
logie aller Zeiten sich wesentlich eins mit der echten Lehre Jesu, so war zwar
die Redlichkeit dieser Voraussetzung nicht anzufechten, wie weit auch die Glau¬
bensmeinungen augenscheinlich auseinandergingen; allein die Objectivität der
religiösen Erkenntniß wurde um so mehr in Frage gestellt, als der Inhalt der
Lehre Jesu selbst und die Bedeutung seiner Persönlichkeit anderen Zeiten in
einem ganz anderen Lichte erschien.

Thatsache war also zunächst nur die Verschiedenheit der Glaubensmeinungen.
Es war das achtzehnte Jahrhundert, das mit seinem kritisch-verständigen Geist
diese Thatsache zur allgemeinen Geltung brachte, aber freilich in der ersten Freude
des Furth voreilige Konsequenzen daraus zog. Bleibend sind seine Verdienste,
sofern es die ungeschichtlichen und vernunftwidrigen Voraussetzungen der Ortho¬
doxie verneinte. Aber wenn es nun das Christenthum in eine abstracte Moral¬
theorie auflöste und damit von dem geschichtlichen Proceß losschälte, wenn es
in dem letzteren nur eine Reihe menschlicher Irrthümer, überall nur subjective
Factoren, Willkür und Leidenschaften sah, so bewies es damit nur denselben
Mangel an wirklich geschichtlichem Sinn, wie auf allen anderen Punkten. Hier
trat dann die moderne geschichtlich-philosophische Weltanschauung berichtigend
ein. indem sie zwar die kritische Arbeit der Aufklärungszeit in sich aufnahm,
aber zugleich eine wirkliche Bejahung hinzuzufügen vermochte. Sie that dies
mit dem Grundsatz, daß die Geschichte der christlichen Religion eine vernünftige
sei, daß in ihrem Verlauf sich die christliche Idee durch ihre Momente hindurch
verwirkliche. Die Geschichte der Religion wurde damit als ihre wahre Wirt-


zurückschauend die ganze Entwickelung des christlichen Bewußtseins zusammen,
so zeigte sich, daß das. was einer Zeit als christlich galt, sehr verschieden.war
von dem. was anderen als solches galt. Es war eine Täuschung, wenn Theo¬
logen irgendwelcher Zeit sich bemühten den Inhalt des Glaubens für alle Zeiten
zu fixiren. Was sie als Lehre des Christenthums in scheinbar absoluter Gil-
tigkeit hinstellten, war doch nur die Art und Weise, wie sie oder ihre Zeit
dieselbe auffaßten, der dann andere Zeiten eine andere Auffassung mit demselben
Anspruch auf absolute Giltigkeit gegenüberstellten. Auch die Unterscheidung
des Inhalts von der bloßen Form half wenig. Denn man konnte sich nicht
verbergen, daß der Wechsel auch den Kern der Glaubensmeinungen nickt ver¬
schonte. Ja man konnte wohl eher umgekehrt sagen: die Form der Dogmen
veränderte sich weit weniger als der Inhalt, welchen man in sie hineinlegte.
Welche Kluft zwischen dem nicänischen Symbol und dem Gebäude der Scholastik,
zwischen Augustin und dem Nationalismus des achtzehnten Jahrhunderts, zwischen
der augsburger Confession und Schleiermachers Glaubenslehre? und nun aller
zusammen mit den unbefangen betrachteten Texten der kanonischen Schriften?
Wo blieb da jener ewig sich selbst gleiche Glaubensinhalt, wenn er sich im
Bewußtsein so verschiedener Zeiten so verschieden reflectirte? Glaubte die Theo¬
logie aller Zeiten sich wesentlich eins mit der echten Lehre Jesu, so war zwar
die Redlichkeit dieser Voraussetzung nicht anzufechten, wie weit auch die Glau¬
bensmeinungen augenscheinlich auseinandergingen; allein die Objectivität der
religiösen Erkenntniß wurde um so mehr in Frage gestellt, als der Inhalt der
Lehre Jesu selbst und die Bedeutung seiner Persönlichkeit anderen Zeiten in
einem ganz anderen Lichte erschien.

Thatsache war also zunächst nur die Verschiedenheit der Glaubensmeinungen.
Es war das achtzehnte Jahrhundert, das mit seinem kritisch-verständigen Geist
diese Thatsache zur allgemeinen Geltung brachte, aber freilich in der ersten Freude
des Furth voreilige Konsequenzen daraus zog. Bleibend sind seine Verdienste,
sofern es die ungeschichtlichen und vernunftwidrigen Voraussetzungen der Ortho¬
doxie verneinte. Aber wenn es nun das Christenthum in eine abstracte Moral¬
theorie auflöste und damit von dem geschichtlichen Proceß losschälte, wenn es
in dem letzteren nur eine Reihe menschlicher Irrthümer, überall nur subjective
Factoren, Willkür und Leidenschaften sah, so bewies es damit nur denselben
Mangel an wirklich geschichtlichem Sinn, wie auf allen anderen Punkten. Hier
trat dann die moderne geschichtlich-philosophische Weltanschauung berichtigend
ein. indem sie zwar die kritische Arbeit der Aufklärungszeit in sich aufnahm,
aber zugleich eine wirkliche Bejahung hinzuzufügen vermochte. Sie that dies
mit dem Grundsatz, daß die Geschichte der christlichen Religion eine vernünftige
sei, daß in ihrem Verlauf sich die christliche Idee durch ihre Momente hindurch
verwirkliche. Die Geschichte der Religion wurde damit als ihre wahre Wirt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/10>, abgerufen am 23.07.2024.