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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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die frühere Phase unserer Literatur, Einige Beispiele werden das deutlich
machen.

Man nehme eine seiner glänzenden Schilderungen, etwa den Prairieritt
im "Cajütcnbuch" oder das tropische Regenwetter in "Süden und Norden", und
halte dagegen irgendeine der zahlreichen Schilderungen bei L. Schefer z. B.
den Waldbrand oder die Nacht auf dem Kreuz der Peterskuppel, so wird man
eine ganz erstaunliche Verwandtschaft entdecken. Leide Dichter verstehn eS näm¬
lich, die Seele des Lesers so zu stimmen, daß sie das wilde Ereigniß, das sie dar¬
stellen, mit fühlen, ja mit leiden, ohne daß seinem Anschauungsvermögen eine
deutliche, in allen Punkten durchsichtige Vorstellung bleibt. Was sich sonst aus¬
zuschließen scheint, das träumerisch Dämmerhafte und das Grelle, ja Blendende,
ist auf eine seltsame Weise in einander verwebt. Freilich belehrt uns jeder et¬
was wilde Traum, daß in der That beides sich keineswegs ausschließt, daß der
Schwindel, der alle Sinnlichkeit aufhebt, und die nervöse Reizbarkeit, die jede
Gestalt ins Fratzenhafte verdeutlicht, gar wohl mit einander verbunden werden
können. Offenbar haben beide Dichter aus dem Traum lire Kunst gelernt.
Doch ist es möglich, daß Schefer als unmittelbares Borbild auf Sealsfield
gewirkt hat.

Ein anderes Beispiel. Ein geheimnißvoller mexikanischer Aristokrat wird
von einigen Amerikanern belauscht, sein Gesicht sieht zuerst blos müde und
stumpf aus, dann aber fangen eine Masse kleiner Linien an sich auf demselben
zu bilden, und die Bewegung seiner Gesichtsmuskeln wird so fieberhaft schnell,
daß der Leser an den Beitstanz denken muß. Das ist nicht etwa ein einzelner
Fall, solche Phantasmagorien wiederholen sich alle Augenblicke, z, B, bei dem
dämonischen Geldmcnsche" in "Morton"; aber auch in lieblicheren Formen z. B.
bei den jungen Damen der neuyorker Aristokratie, die ganz aus Quecksilber
bestehn. Nun halte man dagegen ein beliebiges Capriccio von Ho ff manu
z, B. den "goldenen Topf", und man hat genau dieselbe Operation der Phy¬
siognomie. Freilich spukt bei Hoffmann der Teufel und seine Großmutter, bei
ihm erfolgen die Verwandlungen wirklich, der Archivanus Lindhvrst wird wirk¬
lich ein Drache, sein Thürklöpfel wirklich eine alte Hexe u. s. w., während
bei Sealsfield die Individuen bleiben und der magisch bewegende Hauch nur
über die Gesichter läuft, aber dieser Unterschied betrifft nur die Außenseite, der
innerste Kern des Schaffens ist in beiden Fällen der künstlerische Materialis¬
mus, der sich bemüht, für jede geistige Bewegung den gleich starken körperlichen
Ausdruck zu finden. Bei Balzac findet man ganz ähnliche Erscheinungen.

Ein dritter Fall. In der politischen Tendenz scheint Sealsfield von Steffens
aufs äußerste abzuweichen, der erste bekennt sich zur Partei der Revolution, der
zweite ist entschiedener Reaktionär. Aber man vergleiche das Bild, welches


die frühere Phase unserer Literatur, Einige Beispiele werden das deutlich
machen.

Man nehme eine seiner glänzenden Schilderungen, etwa den Prairieritt
im „Cajütcnbuch" oder das tropische Regenwetter in „Süden und Norden", und
halte dagegen irgendeine der zahlreichen Schilderungen bei L. Schefer z. B.
den Waldbrand oder die Nacht auf dem Kreuz der Peterskuppel, so wird man
eine ganz erstaunliche Verwandtschaft entdecken. Leide Dichter verstehn eS näm¬
lich, die Seele des Lesers so zu stimmen, daß sie das wilde Ereigniß, das sie dar¬
stellen, mit fühlen, ja mit leiden, ohne daß seinem Anschauungsvermögen eine
deutliche, in allen Punkten durchsichtige Vorstellung bleibt. Was sich sonst aus¬
zuschließen scheint, das träumerisch Dämmerhafte und das Grelle, ja Blendende,
ist auf eine seltsame Weise in einander verwebt. Freilich belehrt uns jeder et¬
was wilde Traum, daß in der That beides sich keineswegs ausschließt, daß der
Schwindel, der alle Sinnlichkeit aufhebt, und die nervöse Reizbarkeit, die jede
Gestalt ins Fratzenhafte verdeutlicht, gar wohl mit einander verbunden werden
können. Offenbar haben beide Dichter aus dem Traum lire Kunst gelernt.
Doch ist es möglich, daß Schefer als unmittelbares Borbild auf Sealsfield
gewirkt hat.

Ein anderes Beispiel. Ein geheimnißvoller mexikanischer Aristokrat wird
von einigen Amerikanern belauscht, sein Gesicht sieht zuerst blos müde und
stumpf aus, dann aber fangen eine Masse kleiner Linien an sich auf demselben
zu bilden, und die Bewegung seiner Gesichtsmuskeln wird so fieberhaft schnell,
daß der Leser an den Beitstanz denken muß. Das ist nicht etwa ein einzelner
Fall, solche Phantasmagorien wiederholen sich alle Augenblicke, z, B, bei dem
dämonischen Geldmcnsche» in „Morton"; aber auch in lieblicheren Formen z. B.
bei den jungen Damen der neuyorker Aristokratie, die ganz aus Quecksilber
bestehn. Nun halte man dagegen ein beliebiges Capriccio von Ho ff manu
z, B. den „goldenen Topf", und man hat genau dieselbe Operation der Phy¬
siognomie. Freilich spukt bei Hoffmann der Teufel und seine Großmutter, bei
ihm erfolgen die Verwandlungen wirklich, der Archivanus Lindhvrst wird wirk¬
lich ein Drache, sein Thürklöpfel wirklich eine alte Hexe u. s. w., während
bei Sealsfield die Individuen bleiben und der magisch bewegende Hauch nur
über die Gesichter läuft, aber dieser Unterschied betrifft nur die Außenseite, der
innerste Kern des Schaffens ist in beiden Fällen der künstlerische Materialis¬
mus, der sich bemüht, für jede geistige Bewegung den gleich starken körperlichen
Ausdruck zu finden. Bei Balzac findet man ganz ähnliche Erscheinungen.

Ein dritter Fall. In der politischen Tendenz scheint Sealsfield von Steffens
aufs äußerste abzuweichen, der erste bekennt sich zur Partei der Revolution, der
zweite ist entschiedener Reaktionär. Aber man vergleiche das Bild, welches


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[0442] die frühere Phase unserer Literatur, Einige Beispiele werden das deutlich machen. Man nehme eine seiner glänzenden Schilderungen, etwa den Prairieritt im „Cajütcnbuch" oder das tropische Regenwetter in „Süden und Norden", und halte dagegen irgendeine der zahlreichen Schilderungen bei L. Schefer z. B. den Waldbrand oder die Nacht auf dem Kreuz der Peterskuppel, so wird man eine ganz erstaunliche Verwandtschaft entdecken. Leide Dichter verstehn eS näm¬ lich, die Seele des Lesers so zu stimmen, daß sie das wilde Ereigniß, das sie dar¬ stellen, mit fühlen, ja mit leiden, ohne daß seinem Anschauungsvermögen eine deutliche, in allen Punkten durchsichtige Vorstellung bleibt. Was sich sonst aus¬ zuschließen scheint, das träumerisch Dämmerhafte und das Grelle, ja Blendende, ist auf eine seltsame Weise in einander verwebt. Freilich belehrt uns jeder et¬ was wilde Traum, daß in der That beides sich keineswegs ausschließt, daß der Schwindel, der alle Sinnlichkeit aufhebt, und die nervöse Reizbarkeit, die jede Gestalt ins Fratzenhafte verdeutlicht, gar wohl mit einander verbunden werden können. Offenbar haben beide Dichter aus dem Traum lire Kunst gelernt. Doch ist es möglich, daß Schefer als unmittelbares Borbild auf Sealsfield gewirkt hat. Ein anderes Beispiel. Ein geheimnißvoller mexikanischer Aristokrat wird von einigen Amerikanern belauscht, sein Gesicht sieht zuerst blos müde und stumpf aus, dann aber fangen eine Masse kleiner Linien an sich auf demselben zu bilden, und die Bewegung seiner Gesichtsmuskeln wird so fieberhaft schnell, daß der Leser an den Beitstanz denken muß. Das ist nicht etwa ein einzelner Fall, solche Phantasmagorien wiederholen sich alle Augenblicke, z, B, bei dem dämonischen Geldmcnsche» in „Morton"; aber auch in lieblicheren Formen z. B. bei den jungen Damen der neuyorker Aristokratie, die ganz aus Quecksilber bestehn. Nun halte man dagegen ein beliebiges Capriccio von Ho ff manu z, B. den „goldenen Topf", und man hat genau dieselbe Operation der Phy¬ siognomie. Freilich spukt bei Hoffmann der Teufel und seine Großmutter, bei ihm erfolgen die Verwandlungen wirklich, der Archivanus Lindhvrst wird wirk¬ lich ein Drache, sein Thürklöpfel wirklich eine alte Hexe u. s. w., während bei Sealsfield die Individuen bleiben und der magisch bewegende Hauch nur über die Gesichter läuft, aber dieser Unterschied betrifft nur die Außenseite, der innerste Kern des Schaffens ist in beiden Fällen der künstlerische Materialis¬ mus, der sich bemüht, für jede geistige Bewegung den gleich starken körperlichen Ausdruck zu finden. Bei Balzac findet man ganz ähnliche Erscheinungen. Ein dritter Fall. In der politischen Tendenz scheint Sealsfield von Steffens aufs äußerste abzuweichen, der erste bekennt sich zur Partei der Revolution, der zweite ist entschiedener Reaktionär. Aber man vergleiche das Bild, welches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/442>, abgerufen am 23.07.2024.