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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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noch heute hier eine sehr beträchtliche Anzahl von Leuten giebt, welche so gut
wie gor kein Deutsch verstehen. Die Einwohner von Sonderburg sind zu
mindestens neun Zehntheilcn Juten, die von Gravenstein sind es in dem¬
selben Verhältniß, In AVenrade stellen sich die Zahlen ein wenig günstiger
für das deutsche Element: man wird hier die für gewöhnlich deutsch Redenden
auf etwa drei Zehntel der Gesammtbevölkerung, vielleicht auf etwas mehr ver¬
anschlagen dürfen.

Noch günstiger oder noch minder ungünstig für uns steht es in Haders¬
leben. Auch hier jedoch gab es vor Anfang dieses Jahrhunderts nur sehr we¬
nige Bürger, welche sich in der Familie der deutschen Sprache bedienten, wenn
auch freilich noch weniger, die Schriftdänisch verstanden. Erst nachdem die im
Jahr 1773 auf einer Koppel des königlichen Vorwerks Tyrstrupgaard 1^ Mei¬
len nördlich von der Stadt gegründete Herrnhutercolvnie Christiansfeld aufzu¬
binden begann, änderte sich dieses Verhältniß. Mit den Fabrikaten der deut¬
schen Ansiedler vermochten die im alten Schlendrian befangnen Hadcrslebner
nicht zu concurriren. Der deutsche Flach, die deutsche Geschäftsgewandtheit
überflügelte sie in allen Beziehungen. Bald standen sie so weit zurück hinter
der neuen Niederlassung, daß sie sogar ihr Fleisch und Brot von dorther be¬
zogen, und es schien ChristiansfcldS Gedeihen die gänzliche Verarmung des
nachbarlichen größern Gemeinwesens nach sich ziehen zu sollen.

Da kam Beistand aus Süden. Die in einem Theil Deutschlands ein¬
geführte französische Conscription bewog viele der dortigen Handwerksgesellen,
sich nach Nordschleswig zu wenden. Eine beträchtliche Anzahl derselben wan¬
derte in Hadersleben ein und blieb dort. Sie hatten ihre Energie und ihr
Geschick mitgebracht, man lernte durch sie einsehen, wo der Schuh drückte, und
rasch hob sich durch den Einfluß des neuen bessern Blutes die Betriebsamkeit
der herabgekommenen Stadt dermaßen, daß man die meisten Artikel nicht nur
wohlfeiler, sondern auch besser liefern konnte als bet den Herrnhutcrn. Das
Verhältniß der deutsch sprechenden zu den platldcuiisch redenden Einwohnern
war durch diese Einwanderung wesentlich verändert worden. Dennoch verhiel¬
ten sich jene zu diesen (wir schöpfen aus den sehr genauen statistischen Notizen
eines deutschen Geistlichen der Stadt) um das Jahr 1840 nur wie 23 zu 6S.
Die ganze niedere Classe und vorzüglich die Dienstboten sprachen in der Regel
nur den südjütischen Dialekt, die Gebildeten dagegen, die meiste" Kaufleute,
die Majorität der wohlhabenderen Handwerker, die Lehrer des damals deutschen
Gymnasiums und der übrigen Schulen, die Beamten und die Prediger bedien¬
ten sich unter einander lediglich des Hochdeutschen. In ungefähr 140 Familien
wurde das platte Dänisch der Uebrigen nicht einmal verstanden, und was das
dänische Element an Zahl voraus hatte, wurde durch die größere Masse von
Intelligenz und Capital aufgewogen, welche das deutsche vertrat.


noch heute hier eine sehr beträchtliche Anzahl von Leuten giebt, welche so gut
wie gor kein Deutsch verstehen. Die Einwohner von Sonderburg sind zu
mindestens neun Zehntheilcn Juten, die von Gravenstein sind es in dem¬
selben Verhältniß, In AVenrade stellen sich die Zahlen ein wenig günstiger
für das deutsche Element: man wird hier die für gewöhnlich deutsch Redenden
auf etwa drei Zehntel der Gesammtbevölkerung, vielleicht auf etwas mehr ver¬
anschlagen dürfen.

Noch günstiger oder noch minder ungünstig für uns steht es in Haders¬
leben. Auch hier jedoch gab es vor Anfang dieses Jahrhunderts nur sehr we¬
nige Bürger, welche sich in der Familie der deutschen Sprache bedienten, wenn
auch freilich noch weniger, die Schriftdänisch verstanden. Erst nachdem die im
Jahr 1773 auf einer Koppel des königlichen Vorwerks Tyrstrupgaard 1^ Mei¬
len nördlich von der Stadt gegründete Herrnhutercolvnie Christiansfeld aufzu¬
binden begann, änderte sich dieses Verhältniß. Mit den Fabrikaten der deut¬
schen Ansiedler vermochten die im alten Schlendrian befangnen Hadcrslebner
nicht zu concurriren. Der deutsche Flach, die deutsche Geschäftsgewandtheit
überflügelte sie in allen Beziehungen. Bald standen sie so weit zurück hinter
der neuen Niederlassung, daß sie sogar ihr Fleisch und Brot von dorther be¬
zogen, und es schien ChristiansfcldS Gedeihen die gänzliche Verarmung des
nachbarlichen größern Gemeinwesens nach sich ziehen zu sollen.

Da kam Beistand aus Süden. Die in einem Theil Deutschlands ein¬
geführte französische Conscription bewog viele der dortigen Handwerksgesellen,
sich nach Nordschleswig zu wenden. Eine beträchtliche Anzahl derselben wan¬
derte in Hadersleben ein und blieb dort. Sie hatten ihre Energie und ihr
Geschick mitgebracht, man lernte durch sie einsehen, wo der Schuh drückte, und
rasch hob sich durch den Einfluß des neuen bessern Blutes die Betriebsamkeit
der herabgekommenen Stadt dermaßen, daß man die meisten Artikel nicht nur
wohlfeiler, sondern auch besser liefern konnte als bet den Herrnhutcrn. Das
Verhältniß der deutsch sprechenden zu den platldcuiisch redenden Einwohnern
war durch diese Einwanderung wesentlich verändert worden. Dennoch verhiel¬
ten sich jene zu diesen (wir schöpfen aus den sehr genauen statistischen Notizen
eines deutschen Geistlichen der Stadt) um das Jahr 1840 nur wie 23 zu 6S.
Die ganze niedere Classe und vorzüglich die Dienstboten sprachen in der Regel
nur den südjütischen Dialekt, die Gebildeten dagegen, die meiste» Kaufleute,
die Majorität der wohlhabenderen Handwerker, die Lehrer des damals deutschen
Gymnasiums und der übrigen Schulen, die Beamten und die Prediger bedien¬
ten sich unter einander lediglich des Hochdeutschen. In ungefähr 140 Familien
wurde das platte Dänisch der Uebrigen nicht einmal verstanden, und was das
dänische Element an Zahl voraus hatte, wurde durch die größere Masse von
Intelligenz und Capital aufgewogen, welche das deutsche vertrat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/424>, abgerufen am 23.07.2024.