Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

geworden, aber wo nicht Fürsten eine stehende Bühne unterstützten, wurde
diese -- zwei bis drei wohlhabende Städte ausgenommen -- immer nur aus
einzelne Monate durch Wandertruppen ausgeschlagen.

Von allem, was die Gelehrten des,vorigen Jahrhunderts beschäftigte, war
die Naturwissenschaft am meisten populär. Sie hatte seit hundert Jabren in
großartiger Thätigkeit aus.die Bildung des Volkes gewirkt, sie hatte den Kampf
gegen Aberglauben und gegen Autoritätsglauben begonnen, hatte die Völker
richtiger sehen und beobachten gelehrt, sie zumeist hatte auch dem Laien die
Wißbegierde aufgeregt; nicht wenige kleine Zeitschriften waren bemüht neue
Entdeckungen auch in weitere Kreise zutragen, Sammlungen von Naturgegen-
ständen wurden häufig angelegt. Die Alchemie hatte ihre Gläubigen verloren,
und die Adepten von Profession waren im Aussterben, aber in den Retorten
und Schmelztiegeln wurden auch von Privatleuten häufig zur Freude ihres
Kreises chemische Processe dargestellt, das cartesianische Teufelchen. der Herons-
brunnen, die Laterna magica, das Kaleidoskop und andere physikalische Schau¬
stücke waren in gebildeten Familien heimisch und wurden immer wieder bewun¬
dert und erklärt.

Keine Entdeckung aber, welche man der Wissenschaft verdankte, hatte seit
Menschengedenken das Publicum so aufgeregt, als die Erfindung des Luft¬
ballons. Fünf Jahre vor 1787 hatte Cavallo die ersten Papierballons und
Seifenblasen steigen lassen, im I. 1783 erhoben sich die ersten Montgvlficren
und Charlicren in die Luft. Die Fortschritte der neuen Entdeckung, welche
seit dieser Zeit hohe Erwartungen mehr getäuscht als erfüllt hat, glichen einem
Wunder. Schon im Januar 1785 flog der kecke Franzose Blanchard über den
Kanal, zwei Jahre darauf erfand derselbe den Fallschirm, durch welchen der
Mensch, wie man annahm, aus der größten Höhe gefahrlos durch die Lüfte
auf die Erde herabgleiten konnte. Die kühnsten Träume der Phantasie waren
plötzlich durch die Wirklichkeit übertroffen. Auf der deutschen Erde kroch die
Schneckenpost im Tage etwa vier bis fünf Meilen durch die Schlagbäume und
Grenzzeichen, zahlloser Souveränctäten, jetzt flog der Wagende in geflochtener
Gondel höher als der Adler über Wolken, Meer und Berge. Man erwartete
von der neuen Erfindung die größte Ausbeute für die Wissenschaft, die stärkste
Revolution in dem Verkehrsleben der Erde. Das Poetische der Idee, das Er¬
staunliche des Anblicks, der edle Triumph wissenschaftlicher Entdeckung hoben
die Seelen nicht nur der Gebildeten; das ganze Volk nahm fast leidcnschaft-
llichcn Antheil an dem neuen Funde des Menschengeschlechts. In die Seelen
Unzähliger kam es wie das Ahnen einer Befreiung vpn hundert beengenden
Schranken der Erde, wie das Vorgefühl einer totalen Umwandlung des mensch¬
lichen Lebens. Es war ein Sehnen, das unmittelbar darauf durch ganz andere
Kämpfe, Untersuchungen und Erfindungen zur Wahrheit werden sollte. Damals


geworden, aber wo nicht Fürsten eine stehende Bühne unterstützten, wurde
diese — zwei bis drei wohlhabende Städte ausgenommen — immer nur aus
einzelne Monate durch Wandertruppen ausgeschlagen.

Von allem, was die Gelehrten des,vorigen Jahrhunderts beschäftigte, war
die Naturwissenschaft am meisten populär. Sie hatte seit hundert Jabren in
großartiger Thätigkeit aus.die Bildung des Volkes gewirkt, sie hatte den Kampf
gegen Aberglauben und gegen Autoritätsglauben begonnen, hatte die Völker
richtiger sehen und beobachten gelehrt, sie zumeist hatte auch dem Laien die
Wißbegierde aufgeregt; nicht wenige kleine Zeitschriften waren bemüht neue
Entdeckungen auch in weitere Kreise zutragen, Sammlungen von Naturgegen-
ständen wurden häufig angelegt. Die Alchemie hatte ihre Gläubigen verloren,
und die Adepten von Profession waren im Aussterben, aber in den Retorten
und Schmelztiegeln wurden auch von Privatleuten häufig zur Freude ihres
Kreises chemische Processe dargestellt, das cartesianische Teufelchen. der Herons-
brunnen, die Laterna magica, das Kaleidoskop und andere physikalische Schau¬
stücke waren in gebildeten Familien heimisch und wurden immer wieder bewun¬
dert und erklärt.

Keine Entdeckung aber, welche man der Wissenschaft verdankte, hatte seit
Menschengedenken das Publicum so aufgeregt, als die Erfindung des Luft¬
ballons. Fünf Jahre vor 1787 hatte Cavallo die ersten Papierballons und
Seifenblasen steigen lassen, im I. 1783 erhoben sich die ersten Montgvlficren
und Charlicren in die Luft. Die Fortschritte der neuen Entdeckung, welche
seit dieser Zeit hohe Erwartungen mehr getäuscht als erfüllt hat, glichen einem
Wunder. Schon im Januar 1785 flog der kecke Franzose Blanchard über den
Kanal, zwei Jahre darauf erfand derselbe den Fallschirm, durch welchen der
Mensch, wie man annahm, aus der größten Höhe gefahrlos durch die Lüfte
auf die Erde herabgleiten konnte. Die kühnsten Träume der Phantasie waren
plötzlich durch die Wirklichkeit übertroffen. Auf der deutschen Erde kroch die
Schneckenpost im Tage etwa vier bis fünf Meilen durch die Schlagbäume und
Grenzzeichen, zahlloser Souveränctäten, jetzt flog der Wagende in geflochtener
Gondel höher als der Adler über Wolken, Meer und Berge. Man erwartete
von der neuen Erfindung die größte Ausbeute für die Wissenschaft, die stärkste
Revolution in dem Verkehrsleben der Erde. Das Poetische der Idee, das Er¬
staunliche des Anblicks, der edle Triumph wissenschaftlicher Entdeckung hoben
die Seelen nicht nur der Gebildeten; das ganze Volk nahm fast leidcnschaft-
llichcn Antheil an dem neuen Funde des Menschengeschlechts. In die Seelen
Unzähliger kam es wie das Ahnen einer Befreiung vpn hundert beengenden
Schranken der Erde, wie das Vorgefühl einer totalen Umwandlung des mensch¬
lichen Lebens. Es war ein Sehnen, das unmittelbar darauf durch ganz andere
Kämpfe, Untersuchungen und Erfindungen zur Wahrheit werden sollte. Damals


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188909"/>
          <p xml:id="ID_1146" prev="#ID_1145"> geworden, aber wo nicht Fürsten eine stehende Bühne unterstützten, wurde<lb/>
diese &#x2014; zwei bis drei wohlhabende Städte ausgenommen &#x2014; immer nur aus<lb/>
einzelne Monate durch Wandertruppen ausgeschlagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1147"> Von allem, was die Gelehrten des,vorigen Jahrhunderts beschäftigte, war<lb/>
die Naturwissenschaft am meisten populär. Sie hatte seit hundert Jabren in<lb/>
großartiger Thätigkeit aus.die Bildung des Volkes gewirkt, sie hatte den Kampf<lb/>
gegen Aberglauben und gegen Autoritätsglauben begonnen, hatte die Völker<lb/>
richtiger sehen und beobachten gelehrt, sie zumeist hatte auch dem Laien die<lb/>
Wißbegierde aufgeregt; nicht wenige kleine Zeitschriften waren bemüht neue<lb/>
Entdeckungen auch in weitere Kreise zutragen, Sammlungen von Naturgegen-<lb/>
ständen wurden häufig angelegt. Die Alchemie hatte ihre Gläubigen verloren,<lb/>
und die Adepten von Profession waren im Aussterben, aber in den Retorten<lb/>
und Schmelztiegeln wurden auch von Privatleuten häufig zur Freude ihres<lb/>
Kreises chemische Processe dargestellt, das cartesianische Teufelchen. der Herons-<lb/>
brunnen, die Laterna magica, das Kaleidoskop und andere physikalische Schau¬<lb/>
stücke waren in gebildeten Familien heimisch und wurden immer wieder bewun¬<lb/>
dert und erklärt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1148" next="#ID_1149"> Keine Entdeckung aber, welche man der Wissenschaft verdankte, hatte seit<lb/>
Menschengedenken das Publicum so aufgeregt, als die Erfindung des Luft¬<lb/>
ballons. Fünf Jahre vor 1787 hatte Cavallo die ersten Papierballons und<lb/>
Seifenblasen steigen lassen, im I. 1783 erhoben sich die ersten Montgvlficren<lb/>
und Charlicren in die Luft. Die Fortschritte der neuen Entdeckung, welche<lb/>
seit dieser Zeit hohe Erwartungen mehr getäuscht als erfüllt hat, glichen einem<lb/>
Wunder. Schon im Januar 1785 flog der kecke Franzose Blanchard über den<lb/>
Kanal, zwei Jahre darauf erfand derselbe den Fallschirm, durch welchen der<lb/>
Mensch, wie man annahm, aus der größten Höhe gefahrlos durch die Lüfte<lb/>
auf die Erde herabgleiten konnte. Die kühnsten Träume der Phantasie waren<lb/>
plötzlich durch die Wirklichkeit übertroffen. Auf der deutschen Erde kroch die<lb/>
Schneckenpost im Tage etwa vier bis fünf Meilen durch die Schlagbäume und<lb/>
Grenzzeichen, zahlloser Souveränctäten, jetzt flog der Wagende in geflochtener<lb/>
Gondel höher als der Adler über Wolken, Meer und Berge. Man erwartete<lb/>
von der neuen Erfindung die größte Ausbeute für die Wissenschaft, die stärkste<lb/>
Revolution in dem Verkehrsleben der Erde. Das Poetische der Idee, das Er¬<lb/>
staunliche des Anblicks, der edle Triumph wissenschaftlicher Entdeckung hoben<lb/>
die Seelen nicht nur der Gebildeten; das ganze Volk nahm fast leidcnschaft-<lb/>
llichcn Antheil an dem neuen Funde des Menschengeschlechts. In die Seelen<lb/>
Unzähliger kam es wie das Ahnen einer Befreiung vpn hundert beengenden<lb/>
Schranken der Erde, wie das Vorgefühl einer totalen Umwandlung des mensch¬<lb/>
lichen Lebens. Es war ein Sehnen, das unmittelbar darauf durch ganz andere<lb/>
Kämpfe, Untersuchungen und Erfindungen zur Wahrheit werden sollte. Damals</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0348] geworden, aber wo nicht Fürsten eine stehende Bühne unterstützten, wurde diese — zwei bis drei wohlhabende Städte ausgenommen — immer nur aus einzelne Monate durch Wandertruppen ausgeschlagen. Von allem, was die Gelehrten des,vorigen Jahrhunderts beschäftigte, war die Naturwissenschaft am meisten populär. Sie hatte seit hundert Jabren in großartiger Thätigkeit aus.die Bildung des Volkes gewirkt, sie hatte den Kampf gegen Aberglauben und gegen Autoritätsglauben begonnen, hatte die Völker richtiger sehen und beobachten gelehrt, sie zumeist hatte auch dem Laien die Wißbegierde aufgeregt; nicht wenige kleine Zeitschriften waren bemüht neue Entdeckungen auch in weitere Kreise zutragen, Sammlungen von Naturgegen- ständen wurden häufig angelegt. Die Alchemie hatte ihre Gläubigen verloren, und die Adepten von Profession waren im Aussterben, aber in den Retorten und Schmelztiegeln wurden auch von Privatleuten häufig zur Freude ihres Kreises chemische Processe dargestellt, das cartesianische Teufelchen. der Herons- brunnen, die Laterna magica, das Kaleidoskop und andere physikalische Schau¬ stücke waren in gebildeten Familien heimisch und wurden immer wieder bewun¬ dert und erklärt. Keine Entdeckung aber, welche man der Wissenschaft verdankte, hatte seit Menschengedenken das Publicum so aufgeregt, als die Erfindung des Luft¬ ballons. Fünf Jahre vor 1787 hatte Cavallo die ersten Papierballons und Seifenblasen steigen lassen, im I. 1783 erhoben sich die ersten Montgvlficren und Charlicren in die Luft. Die Fortschritte der neuen Entdeckung, welche seit dieser Zeit hohe Erwartungen mehr getäuscht als erfüllt hat, glichen einem Wunder. Schon im Januar 1785 flog der kecke Franzose Blanchard über den Kanal, zwei Jahre darauf erfand derselbe den Fallschirm, durch welchen der Mensch, wie man annahm, aus der größten Höhe gefahrlos durch die Lüfte auf die Erde herabgleiten konnte. Die kühnsten Träume der Phantasie waren plötzlich durch die Wirklichkeit übertroffen. Auf der deutschen Erde kroch die Schneckenpost im Tage etwa vier bis fünf Meilen durch die Schlagbäume und Grenzzeichen, zahlloser Souveränctäten, jetzt flog der Wagende in geflochtener Gondel höher als der Adler über Wolken, Meer und Berge. Man erwartete von der neuen Erfindung die größte Ausbeute für die Wissenschaft, die stärkste Revolution in dem Verkehrsleben der Erde. Das Poetische der Idee, das Er¬ staunliche des Anblicks, der edle Triumph wissenschaftlicher Entdeckung hoben die Seelen nicht nur der Gebildeten; das ganze Volk nahm fast leidcnschaft- llichcn Antheil an dem neuen Funde des Menschengeschlechts. In die Seelen Unzähliger kam es wie das Ahnen einer Befreiung vpn hundert beengenden Schranken der Erde, wie das Vorgefühl einer totalen Umwandlung des mensch¬ lichen Lebens. Es war ein Sehnen, das unmittelbar darauf durch ganz andere Kämpfe, Untersuchungen und Erfindungen zur Wahrheit werden sollte. Damals

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/348
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/348>, abgerufen am 23.07.2024.