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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Buch, auf welches sie sich stützte, und als auf Grund jener Lehre sich Sekten
bildeten,' welche die Kirche von sich ausschloß, wurde der Offenbarung geradezu
der apostolische Ursprung abgesprochen. Wie konnte eine Schrift, welche dem
jetzigen Bewußtsein der Kirche so wenig entsprach, von einem Jünger des Herrn
verfaßt sein? Schon damals machte ein Kirchenlehrer in Alexandria auf die
grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Offenbarung und dem Evangelium
des Johannes aufmerksam, die unmöglich von einem und demselben Verfasser
herrühren könnten. Aber es waren nur dogmatische, nicht kritische Bedenken,
welche ihm die Augen für diese Verschiedenheit öffneten, sonst hätte er nicht
aus der Echtheit des Evangeliums auf die Uuechtheit der Offenbarung, sondern
umgekehrt aus der Echtheit der Offenbarung auf die Uuechtheit des Evangeliums
schließen müssen. Eine Schrift, welche zweifellos zu den ältesten unsres Kanons
gehört, wurde so allmälig in die Reihe der zweifelhaften, ja der unechten
herabgedrückt, und diese Zweifel kamen im Grund nie mehr völlig zur Nuhe,
eben weil die Kirche sich immer weiter entfernte vom Standpunkt jener juden-
clmstlichen Vision. -- Ein umgekehrtes Beispiel haben wir am zweiten Petrus¬
brief. Wie dort eine alte Schrift aus dogmatischen Gründen mit der Zeit immer
ungünstiger behandelt wird, so wird hier aus dogmatischen Gründen eine sehr junge
Schrift in kurzer Zeit fast ohne Widerspruch dem Kanon einverleibt. Der
zweite Petrusbrief ist gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts im Interesse
einer völligen Verschmelzung des paulinischen und petrinischcn Christenthums,
des Glaubens und der Werke geschrieben, und noch bei den Kirchenlehrern
am Ende des zweiten und zu Anfang des dritten Jahrhunderts, bei Irenäus,
Tertullian, Cyprian findet sich keine Spur von ihm. Bei Origenes taucht er
zum ersten Mal aus. Dieser sowohl als Eusebius führen ihn als "bestritten" auf;
gleichwohl hatte schon damals die Kirche sich für seinen Gebrauch entschieden,
und die späteren Kirchenlehrer gebrauchen ihn ohne Bedenken als Schrift des
Apostels Petrus, wennauch Einzelne noch privatim bescheidene Zweifel äußern.
Die praktische Brauchbarkeit und das Interesse, auch Briefe von Petrus im
Kanon zu haben, in welchem Paulus so reichlich vertreten ist, entschied über die
Bedenken der Kritik. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, auf welchen
Gründen das Urtheil der Kirche, ob eine Schrift apostolisch sei oder nicht, beruhte.

Nichts beweist mehr, wie schwankend, unfertig der Kanon während der
ersten zwei Jahrhunderte war, als die Menge von Schriften, welche von den
ältesten Vätern als inspirirte Glaubcnsurkunden benutzt wurden und allmälig
aus dem Gebrauch der Kirche verschwanden. So wird der Hirte des Hermas,
eine rives erhaltene judenchristliche Schrift, von Irenäus, als kanonisch citirt.
von anderen Vätern wenigstens als Schrift von vollständiger dogmatischer
Beweiskraft benutzt. Tertullian betrachtet ihn in einer früheren Schrift gleich¬
falls als ein Buch von kirchlicher Autorität; in einer späteren dagegen fällt er,


Buch, auf welches sie sich stützte, und als auf Grund jener Lehre sich Sekten
bildeten,' welche die Kirche von sich ausschloß, wurde der Offenbarung geradezu
der apostolische Ursprung abgesprochen. Wie konnte eine Schrift, welche dem
jetzigen Bewußtsein der Kirche so wenig entsprach, von einem Jünger des Herrn
verfaßt sein? Schon damals machte ein Kirchenlehrer in Alexandria auf die
grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Offenbarung und dem Evangelium
des Johannes aufmerksam, die unmöglich von einem und demselben Verfasser
herrühren könnten. Aber es waren nur dogmatische, nicht kritische Bedenken,
welche ihm die Augen für diese Verschiedenheit öffneten, sonst hätte er nicht
aus der Echtheit des Evangeliums auf die Uuechtheit der Offenbarung, sondern
umgekehrt aus der Echtheit der Offenbarung auf die Uuechtheit des Evangeliums
schließen müssen. Eine Schrift, welche zweifellos zu den ältesten unsres Kanons
gehört, wurde so allmälig in die Reihe der zweifelhaften, ja der unechten
herabgedrückt, und diese Zweifel kamen im Grund nie mehr völlig zur Nuhe,
eben weil die Kirche sich immer weiter entfernte vom Standpunkt jener juden-
clmstlichen Vision. — Ein umgekehrtes Beispiel haben wir am zweiten Petrus¬
brief. Wie dort eine alte Schrift aus dogmatischen Gründen mit der Zeit immer
ungünstiger behandelt wird, so wird hier aus dogmatischen Gründen eine sehr junge
Schrift in kurzer Zeit fast ohne Widerspruch dem Kanon einverleibt. Der
zweite Petrusbrief ist gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts im Interesse
einer völligen Verschmelzung des paulinischen und petrinischcn Christenthums,
des Glaubens und der Werke geschrieben, und noch bei den Kirchenlehrern
am Ende des zweiten und zu Anfang des dritten Jahrhunderts, bei Irenäus,
Tertullian, Cyprian findet sich keine Spur von ihm. Bei Origenes taucht er
zum ersten Mal aus. Dieser sowohl als Eusebius führen ihn als „bestritten" auf;
gleichwohl hatte schon damals die Kirche sich für seinen Gebrauch entschieden,
und die späteren Kirchenlehrer gebrauchen ihn ohne Bedenken als Schrift des
Apostels Petrus, wennauch Einzelne noch privatim bescheidene Zweifel äußern.
Die praktische Brauchbarkeit und das Interesse, auch Briefe von Petrus im
Kanon zu haben, in welchem Paulus so reichlich vertreten ist, entschied über die
Bedenken der Kritik. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, auf welchen
Gründen das Urtheil der Kirche, ob eine Schrift apostolisch sei oder nicht, beruhte.

Nichts beweist mehr, wie schwankend, unfertig der Kanon während der
ersten zwei Jahrhunderte war, als die Menge von Schriften, welche von den
ältesten Vätern als inspirirte Glaubcnsurkunden benutzt wurden und allmälig
aus dem Gebrauch der Kirche verschwanden. So wird der Hirte des Hermas,
eine rives erhaltene judenchristliche Schrift, von Irenäus, als kanonisch citirt.
von anderen Vätern wenigstens als Schrift von vollständiger dogmatischer
Beweiskraft benutzt. Tertullian betrachtet ihn in einer früheren Schrift gleich¬
falls als ein Buch von kirchlicher Autorität; in einer späteren dagegen fällt er,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/252>, abgerufen am 26.06.2024.