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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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lerischer, ja fast möchten wir sagen, sittlicher Durchbildung, welche diese un¬
seligen Geschöpfe mit der dreistesten Prätension und abstoßender Großmarms-
sucht an der Stirne tragen. Daß ein Versuch von Liszt, geistliche Musik zu
schreiben, noch kläglicher ausfallen würde, ließ sich voraussehen, und als
im Jahre 1869 bei der leipziger Musikversammlung dieser Schule in den alt¬
ehrwürdigen Räumen der Thomaskirche, in der Tags zuvor die große handhabe
Messe aufgeführt worden war, jene grauer Festmesse ihr kokett gespreiztes hoh¬
les Wesen in endloser Langeweile mit starkem Geräusch abwickelte, da haben
Viele gefühlt, daß der Anfang zugleich das Ende sein werde. Zwar procla-
mirte der "Schriftsteller" der Schule an jenen Tagen dieselbe als neudeutsche
Musik, als Musik des Gedankens (rationelle oder rationalistische Musik nannte
sie der Philosoph), allein man mußte sich mit Schmerz eingestehen, daß nicht
nur kein Gedanke, sondern auch leider keine Musik darin zu verspüren war.
Und wenn wir nun durch Liszts Schüler so manche ältere und neuere seiner
Claviercompositionen zu hören bekommen, so müssen wir sogar die Consequenz
in dem ganzen Treiben vermissen. Denn diese Clavierstücke sind um kein Haar
besser als die gewöhnlichen Virtuosencvmpositionen, und wir möchten wohl wis¬
sen, was wir etwa bei einer Phantasie Liszts über Verdis Trovatore für einen
bewegenden Gedanken in ihm voraussehen und finden sollten, außer einem sehr
praktischen, der freilich nur für ihn und seinen Verleger von Interesse ist.

Das ganze Wesen und Treiben dieser Schule gemahnt lebhast an eine
Zeit, welche glücklicherweise hinter uns liegt, an die Zeit des blühendsten Vir-
tuosenthumes. wo es wirklich ein Ereigniß für eine ganze Stadt war, wenn
ein solcher neuer Stern des Claviers oder der Geige, der womöglich kein Deut¬
scher sein durfte, ein Concert gab. und mit welchem Programm! Wo gescheidte
und gebildete Männer solche leere und inhaltslose Künste für ein Zeichen der
Genialität anzusehen liebten, wo deutsche Frauen sich nicht mei'töteten, mit
Russinnen. Polinnen, Ungarinnen, Französinnen in kriechender Verehrung des
"großen Mannes" zu wetteifern! Das war ein Haschen nach Interessanten und
Pikanten, ein Hintansepen aller alten Sitte, ein Wesen ohne alle Pietät --
nur das Neue hatte Recht, und der Gott des Tages war das Geistreiche. Was
nach Arbeit schmeckte, war verachtet, ein ernstes Streben, Wirken und Schaf¬
fen zu alltäglich, der einzige Reiz, der diesen abgestumpften Gaumen zusagte,
war das Nochnichtdagewesene. Dies ist die Bahn, aus welche alles Virtuosen-
thum getrieben wird, dem nicht echte und keusche Liebe zur Kunst die Weihe
gegeben, und als diese Virtuosen anfingen großartig zu componiren. da wur¬
den wieder pomphafte und marktschreierische Ankündigungen in die Welt ge¬
staut -- so etwas sei noch nicht dagewesen, etwas ganz neues werde geboten,
ein verehrtes Publicum überzeuge sich selbst, nur Pedanterie könne zweifeln
u. s. w. -- Und als die Leute nun kamen und hörten, als sie das, was gut


Grevzboten I. 1864. 10

lerischer, ja fast möchten wir sagen, sittlicher Durchbildung, welche diese un¬
seligen Geschöpfe mit der dreistesten Prätension und abstoßender Großmarms-
sucht an der Stirne tragen. Daß ein Versuch von Liszt, geistliche Musik zu
schreiben, noch kläglicher ausfallen würde, ließ sich voraussehen, und als
im Jahre 1869 bei der leipziger Musikversammlung dieser Schule in den alt¬
ehrwürdigen Räumen der Thomaskirche, in der Tags zuvor die große handhabe
Messe aufgeführt worden war, jene grauer Festmesse ihr kokett gespreiztes hoh¬
les Wesen in endloser Langeweile mit starkem Geräusch abwickelte, da haben
Viele gefühlt, daß der Anfang zugleich das Ende sein werde. Zwar procla-
mirte der „Schriftsteller" der Schule an jenen Tagen dieselbe als neudeutsche
Musik, als Musik des Gedankens (rationelle oder rationalistische Musik nannte
sie der Philosoph), allein man mußte sich mit Schmerz eingestehen, daß nicht
nur kein Gedanke, sondern auch leider keine Musik darin zu verspüren war.
Und wenn wir nun durch Liszts Schüler so manche ältere und neuere seiner
Claviercompositionen zu hören bekommen, so müssen wir sogar die Consequenz
in dem ganzen Treiben vermissen. Denn diese Clavierstücke sind um kein Haar
besser als die gewöhnlichen Virtuosencvmpositionen, und wir möchten wohl wis¬
sen, was wir etwa bei einer Phantasie Liszts über Verdis Trovatore für einen
bewegenden Gedanken in ihm voraussehen und finden sollten, außer einem sehr
praktischen, der freilich nur für ihn und seinen Verleger von Interesse ist.

Das ganze Wesen und Treiben dieser Schule gemahnt lebhast an eine
Zeit, welche glücklicherweise hinter uns liegt, an die Zeit des blühendsten Vir-
tuosenthumes. wo es wirklich ein Ereigniß für eine ganze Stadt war, wenn
ein solcher neuer Stern des Claviers oder der Geige, der womöglich kein Deut¬
scher sein durfte, ein Concert gab. und mit welchem Programm! Wo gescheidte
und gebildete Männer solche leere und inhaltslose Künste für ein Zeichen der
Genialität anzusehen liebten, wo deutsche Frauen sich nicht mei'töteten, mit
Russinnen. Polinnen, Ungarinnen, Französinnen in kriechender Verehrung des
„großen Mannes" zu wetteifern! Das war ein Haschen nach Interessanten und
Pikanten, ein Hintansepen aller alten Sitte, ein Wesen ohne alle Pietät —
nur das Neue hatte Recht, und der Gott des Tages war das Geistreiche. Was
nach Arbeit schmeckte, war verachtet, ein ernstes Streben, Wirken und Schaf¬
fen zu alltäglich, der einzige Reiz, der diesen abgestumpften Gaumen zusagte,
war das Nochnichtdagewesene. Dies ist die Bahn, aus welche alles Virtuosen-
thum getrieben wird, dem nicht echte und keusche Liebe zur Kunst die Weihe
gegeben, und als diese Virtuosen anfingen großartig zu componiren. da wur¬
den wieder pomphafte und marktschreierische Ankündigungen in die Welt ge¬
staut — so etwas sei noch nicht dagewesen, etwas ganz neues werde geboten,
ein verehrtes Publicum überzeuge sich selbst, nur Pedanterie könne zweifeln
u. s. w. — Und als die Leute nun kamen und hörten, als sie das, was gut


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[0083] lerischer, ja fast möchten wir sagen, sittlicher Durchbildung, welche diese un¬ seligen Geschöpfe mit der dreistesten Prätension und abstoßender Großmarms- sucht an der Stirne tragen. Daß ein Versuch von Liszt, geistliche Musik zu schreiben, noch kläglicher ausfallen würde, ließ sich voraussehen, und als im Jahre 1869 bei der leipziger Musikversammlung dieser Schule in den alt¬ ehrwürdigen Räumen der Thomaskirche, in der Tags zuvor die große handhabe Messe aufgeführt worden war, jene grauer Festmesse ihr kokett gespreiztes hoh¬ les Wesen in endloser Langeweile mit starkem Geräusch abwickelte, da haben Viele gefühlt, daß der Anfang zugleich das Ende sein werde. Zwar procla- mirte der „Schriftsteller" der Schule an jenen Tagen dieselbe als neudeutsche Musik, als Musik des Gedankens (rationelle oder rationalistische Musik nannte sie der Philosoph), allein man mußte sich mit Schmerz eingestehen, daß nicht nur kein Gedanke, sondern auch leider keine Musik darin zu verspüren war. Und wenn wir nun durch Liszts Schüler so manche ältere und neuere seiner Claviercompositionen zu hören bekommen, so müssen wir sogar die Consequenz in dem ganzen Treiben vermissen. Denn diese Clavierstücke sind um kein Haar besser als die gewöhnlichen Virtuosencvmpositionen, und wir möchten wohl wis¬ sen, was wir etwa bei einer Phantasie Liszts über Verdis Trovatore für einen bewegenden Gedanken in ihm voraussehen und finden sollten, außer einem sehr praktischen, der freilich nur für ihn und seinen Verleger von Interesse ist. Das ganze Wesen und Treiben dieser Schule gemahnt lebhast an eine Zeit, welche glücklicherweise hinter uns liegt, an die Zeit des blühendsten Vir- tuosenthumes. wo es wirklich ein Ereigniß für eine ganze Stadt war, wenn ein solcher neuer Stern des Claviers oder der Geige, der womöglich kein Deut¬ scher sein durfte, ein Concert gab. und mit welchem Programm! Wo gescheidte und gebildete Männer solche leere und inhaltslose Künste für ein Zeichen der Genialität anzusehen liebten, wo deutsche Frauen sich nicht mei'töteten, mit Russinnen. Polinnen, Ungarinnen, Französinnen in kriechender Verehrung des „großen Mannes" zu wetteifern! Das war ein Haschen nach Interessanten und Pikanten, ein Hintansepen aller alten Sitte, ein Wesen ohne alle Pietät — nur das Neue hatte Recht, und der Gott des Tages war das Geistreiche. Was nach Arbeit schmeckte, war verachtet, ein ernstes Streben, Wirken und Schaf¬ fen zu alltäglich, der einzige Reiz, der diesen abgestumpften Gaumen zusagte, war das Nochnichtdagewesene. Dies ist die Bahn, aus welche alles Virtuosen- thum getrieben wird, dem nicht echte und keusche Liebe zur Kunst die Weihe gegeben, und als diese Virtuosen anfingen großartig zu componiren. da wur¬ den wieder pomphafte und marktschreierische Ankündigungen in die Welt ge¬ staut — so etwas sei noch nicht dagewesen, etwas ganz neues werde geboten, ein verehrtes Publicum überzeuge sich selbst, nur Pedanterie könne zweifeln u. s. w. — Und als die Leute nun kamen und hörten, als sie das, was gut Grevzboten I. 1864. 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/83>, abgerufen am 24.07.2024.