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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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auch in dieser Beziehung in merklichem Gegensatz zu ihren Brüdern an der
Isar stehen. Die schwäbische Lyrik cultivirt überhaupt das Zeitgedicht mit Vor¬
liebe. Erinnert man sich, daß ihr Stammbaum zu Schiller und Schubart hinauf¬
reicht, und daß E. Mörike, der nach der goetheschen Seite liegt, überhaupt
eine Ausnahme bildet, so ist diese Erscheinung schwerlich eine zufällige zu nennen.
In Uhland, dieser specifischen Jncarnation schwäbischer Charattereigenthümlich-
keit, vereinigten sich die zwei Seiten der romantischen Welt und Naturbetrach¬
tung und der erregten Theilnahme für die politischen Interessen. Jene Seite
überwog bei den älteren, um ihn sich gruppirenden Dichtern, diese drängt sich
bei der jüngeren Generation hervor. Außer den im Dichterbuch vertretenen
Namen wären noch andere zu nennen, deren Begabung vorzüglich nach dieser
Seite liegt. Auch I. G. Fischer verdankt einige seiner besten Eingebungen
den bewegenden Zeitideen. Ludwig Seeger hat gleichzeitig mit dem Dichter¬
buch eine neue Ausgabe seines "Liederbuchs" und seines "Sohns der Zeit"
erscheinen lassen, (Stuttgart, 1864), von welchen die letztere Sammlung aus¬
schließlich Zcitgedichte enthält. Freilich von sehr ungleichem Gehalt, und viel¬
fach auf den vagen Liberalismus der vierziger Jahre deutend, denen sie auch
zum größeren Theil entstammt sind. Eine scharfe satirische Ader, Prägnanz
des Ausdrucks läßt sich dem durch seine Übersetzungen noch mehr bekannt ge¬
wordenen Verfasser nicht absprechen, aber der Ideengehalt ist doch wenig be¬
deutend, die Form oft salopp, derb, burschikos, die Anlehnung an fremde Muster
häusig nicht zu verkennen. Eine neue Shakcspeareübersetzung Scegcrs, mit
deren Herausgabe zur Feier des Jubiläums demnächst begonnen wird, soll
nach der Versicherung seiner Freunde wohlgelungen sein. Theobald Kerner,
der Sohn des Justinus, ist ein neues Beispiel für jenes friedliche Zusammen¬
sein der alten Romantik und eines auf das Politische gerichteten Realismus.
Gehörte sein "Natur und Friede" ganz jener an, so athmen seine neueren Ge¬
dichte einen entschieden politisch-satirischen Geist. Eines derselben, das auch
ins Dichterbuch aufgenommene Lied vom Reichsapfel ist in seiner Heimath fast
zum Volkslied geworden. Was Fr. Notker in dieser Richtung beigetragen hat,
verräth wohl ansprechende Gedanken, die aber nicht zu klarer Durchsichtigkeit
und Anschaulichkeit herausgearbeitet sind. Sem eigentliches Element scheint ein
in Balladcnform sich kleidender Eultus des Genius zu sein, wie sein vor zwei
Jahren erschienener Ey-tius: "Dante Alighieri" und im vorliegenden Buch sein
Milton schließen läßt. Auch Fevdvr Löwe hat in seinem Prolog zum Herzog
Ernst von Schwaben eine Art von Zeitgcdicyt geliefert, dessen Inhalt, wie
man erzählt, seiner Zeit für so bedenklich gehalten wurde, daß es zu Uhlands
Gedächtnißfeier im Stuttgarter Hoftheater, für die es gedichtet wurde, nicht ge¬
sprochen werden durfte.

Bezeichnend ist, daß auch Julius Grosse mit seinen drei Zeitbildern aus


auch in dieser Beziehung in merklichem Gegensatz zu ihren Brüdern an der
Isar stehen. Die schwäbische Lyrik cultivirt überhaupt das Zeitgedicht mit Vor¬
liebe. Erinnert man sich, daß ihr Stammbaum zu Schiller und Schubart hinauf¬
reicht, und daß E. Mörike, der nach der goetheschen Seite liegt, überhaupt
eine Ausnahme bildet, so ist diese Erscheinung schwerlich eine zufällige zu nennen.
In Uhland, dieser specifischen Jncarnation schwäbischer Charattereigenthümlich-
keit, vereinigten sich die zwei Seiten der romantischen Welt und Naturbetrach¬
tung und der erregten Theilnahme für die politischen Interessen. Jene Seite
überwog bei den älteren, um ihn sich gruppirenden Dichtern, diese drängt sich
bei der jüngeren Generation hervor. Außer den im Dichterbuch vertretenen
Namen wären noch andere zu nennen, deren Begabung vorzüglich nach dieser
Seite liegt. Auch I. G. Fischer verdankt einige seiner besten Eingebungen
den bewegenden Zeitideen. Ludwig Seeger hat gleichzeitig mit dem Dichter¬
buch eine neue Ausgabe seines „Liederbuchs" und seines „Sohns der Zeit"
erscheinen lassen, (Stuttgart, 1864), von welchen die letztere Sammlung aus¬
schließlich Zcitgedichte enthält. Freilich von sehr ungleichem Gehalt, und viel¬
fach auf den vagen Liberalismus der vierziger Jahre deutend, denen sie auch
zum größeren Theil entstammt sind. Eine scharfe satirische Ader, Prägnanz
des Ausdrucks läßt sich dem durch seine Übersetzungen noch mehr bekannt ge¬
wordenen Verfasser nicht absprechen, aber der Ideengehalt ist doch wenig be¬
deutend, die Form oft salopp, derb, burschikos, die Anlehnung an fremde Muster
häusig nicht zu verkennen. Eine neue Shakcspeareübersetzung Scegcrs, mit
deren Herausgabe zur Feier des Jubiläums demnächst begonnen wird, soll
nach der Versicherung seiner Freunde wohlgelungen sein. Theobald Kerner,
der Sohn des Justinus, ist ein neues Beispiel für jenes friedliche Zusammen¬
sein der alten Romantik und eines auf das Politische gerichteten Realismus.
Gehörte sein „Natur und Friede" ganz jener an, so athmen seine neueren Ge¬
dichte einen entschieden politisch-satirischen Geist. Eines derselben, das auch
ins Dichterbuch aufgenommene Lied vom Reichsapfel ist in seiner Heimath fast
zum Volkslied geworden. Was Fr. Notker in dieser Richtung beigetragen hat,
verräth wohl ansprechende Gedanken, die aber nicht zu klarer Durchsichtigkeit
und Anschaulichkeit herausgearbeitet sind. Sem eigentliches Element scheint ein
in Balladcnform sich kleidender Eultus des Genius zu sein, wie sein vor zwei
Jahren erschienener Ey-tius: „Dante Alighieri" und im vorliegenden Buch sein
Milton schließen läßt. Auch Fevdvr Löwe hat in seinem Prolog zum Herzog
Ernst von Schwaben eine Art von Zeitgcdicyt geliefert, dessen Inhalt, wie
man erzählt, seiner Zeit für so bedenklich gehalten wurde, daß es zu Uhlands
Gedächtnißfeier im Stuttgarter Hoftheater, für die es gedichtet wurde, nicht ge¬
sprochen werden durfte.

Bezeichnend ist, daß auch Julius Grosse mit seinen drei Zeitbildern aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/58>, abgerufen am 24.07.2024.