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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Verstand, selten das Gefühl, beinahe nie die Leidenschaft den Ausschlag bei
ihren Handlungen. Immer zeigen sie mehr passive als active Tugenden, vor
allem Beharrlichkeit, Geduld und Ausdauer. Ueberall äußert sich ein bedäch¬
tiges, etwas langsames, aber gediegenes und gründliches Wesen. Kein deutscher
Gau scheint so reif zur Selbstregierung -- diese Sachsen, Angler, Friesen und
Juden sind eben die Geschwisterkinder der Engländer.

Dazu kommt, daß auch die Beschäftigung der großen Mehrzahl des Volkes
der Herzogtümer eine und dieselbe ist. Schleswig-Holstein hat, wie im ersten
Abschnitt bereits bemerkt wurde, verhältnißmäßig sehr wenig Fabriken. Seine
Städte sind Mittel- oder Kleinstädte. Seine Bevölkerung besteht zu reichlich
fünf Sechstheilen aus Bauern*) und diese Bauern betreiben die Landwirthschaft
wesentlich in gleicher Weise: von der jütischen Grenze bis herab nach Lauenburg
ist sie in der Viehzucht auf der Geest auf Milchwirtschaft zum Zweck der Butter-
bcreitung, in der Marsch auf Mästung gerichtet, im Ackerbau den ganzen Osten
hinauf Koppelwirthschaft in eingefriedigten Schlägen mit bestimmter Saatfolge
und Bracbzeit.

Dazu kommt ferner, daß ein Glaube im Lande herrscht. Dazu endlich,
daß die von Süden eindringende Bildung ihren Weg durch die Striche nehmen
mußte, die von dem sächsischen Stamme besetzt waren, und daß der gesammte
Adel des Landes diesem Stamme angehört, wodurch das Sachsenthum die erste
und einflußreichste Macht wurde und seine Eigenthümlichkeiten den übrigen
Stämmen mehr oder minder mittheilte.

Im Folgenden überblicken wir in der Kürze die Reste der Eigenschaften,
welche die einzelnen Glieder des soeben betrachteten Schleswig-holsteinischen Ge--
sammt-Jndividuums unbeschadet der Einheit desselben bewahrt haben.

Das Volk, welches Wagrien bewohnt, ist slavischer Abkunft, hat aber seine
alte Sprache und Sitte schon seit Jahrhunderten aufgegeben und ist von seinen
Nachbarn im übrigen Holstein nicht mehr zu unterscheiden. Das Land, welches
diese Wagrier innehaben, ist fast ganz im Besitz des Adels und andrer großer
Gutsherren, und vielfach klingt hier die Leibeigenschaft noch nach, in welche in
der Zeit der Eroberung der Deutsche den Wenden warf, doch sind solche Mi߬
töne, wie sie aus Mecklenburg sich vernehmen lassen, hier nicht zu hören. Das
Hauptübel, woran dieser Theil der Holsteiner leidet, liegt darin, daß die Hufner,
Jnseen und Käthner Wagriens kein Grundeigenthum haben, welches sie ver¬
äußern oder vergrößern könnten, sondern auf ihren Gütern im eigentlichsten
Sinne des Wortes zur Miethe wohnen. Sie sind der großen Mehrzahl nach
nicht einmal Erb- sondern nur Zeitpächter der Ritterschaft, von deren Belieben



") In Schleswig kamen im Jahre 1845 auf die Städte 69.212, auf die Landdistricte
303,688, in Holstein auf jene 8<>,!>12. auf diese 389.4S2 Einwohner.

Verstand, selten das Gefühl, beinahe nie die Leidenschaft den Ausschlag bei
ihren Handlungen. Immer zeigen sie mehr passive als active Tugenden, vor
allem Beharrlichkeit, Geduld und Ausdauer. Ueberall äußert sich ein bedäch¬
tiges, etwas langsames, aber gediegenes und gründliches Wesen. Kein deutscher
Gau scheint so reif zur Selbstregierung — diese Sachsen, Angler, Friesen und
Juden sind eben die Geschwisterkinder der Engländer.

Dazu kommt, daß auch die Beschäftigung der großen Mehrzahl des Volkes
der Herzogtümer eine und dieselbe ist. Schleswig-Holstein hat, wie im ersten
Abschnitt bereits bemerkt wurde, verhältnißmäßig sehr wenig Fabriken. Seine
Städte sind Mittel- oder Kleinstädte. Seine Bevölkerung besteht zu reichlich
fünf Sechstheilen aus Bauern*) und diese Bauern betreiben die Landwirthschaft
wesentlich in gleicher Weise: von der jütischen Grenze bis herab nach Lauenburg
ist sie in der Viehzucht auf der Geest auf Milchwirtschaft zum Zweck der Butter-
bcreitung, in der Marsch auf Mästung gerichtet, im Ackerbau den ganzen Osten
hinauf Koppelwirthschaft in eingefriedigten Schlägen mit bestimmter Saatfolge
und Bracbzeit.

Dazu kommt ferner, daß ein Glaube im Lande herrscht. Dazu endlich,
daß die von Süden eindringende Bildung ihren Weg durch die Striche nehmen
mußte, die von dem sächsischen Stamme besetzt waren, und daß der gesammte
Adel des Landes diesem Stamme angehört, wodurch das Sachsenthum die erste
und einflußreichste Macht wurde und seine Eigenthümlichkeiten den übrigen
Stämmen mehr oder minder mittheilte.

Im Folgenden überblicken wir in der Kürze die Reste der Eigenschaften,
welche die einzelnen Glieder des soeben betrachteten Schleswig-holsteinischen Ge--
sammt-Jndividuums unbeschadet der Einheit desselben bewahrt haben.

Das Volk, welches Wagrien bewohnt, ist slavischer Abkunft, hat aber seine
alte Sprache und Sitte schon seit Jahrhunderten aufgegeben und ist von seinen
Nachbarn im übrigen Holstein nicht mehr zu unterscheiden. Das Land, welches
diese Wagrier innehaben, ist fast ganz im Besitz des Adels und andrer großer
Gutsherren, und vielfach klingt hier die Leibeigenschaft noch nach, in welche in
der Zeit der Eroberung der Deutsche den Wenden warf, doch sind solche Mi߬
töne, wie sie aus Mecklenburg sich vernehmen lassen, hier nicht zu hören. Das
Hauptübel, woran dieser Theil der Holsteiner leidet, liegt darin, daß die Hufner,
Jnseen und Käthner Wagriens kein Grundeigenthum haben, welches sie ver¬
äußern oder vergrößern könnten, sondern auf ihren Gütern im eigentlichsten
Sinne des Wortes zur Miethe wohnen. Sie sind der großen Mehrzahl nach
nicht einmal Erb- sondern nur Zeitpächter der Ritterschaft, von deren Belieben



") In Schleswig kamen im Jahre 1845 auf die Städte 69.212, auf die Landdistricte
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[0486] Verstand, selten das Gefühl, beinahe nie die Leidenschaft den Ausschlag bei ihren Handlungen. Immer zeigen sie mehr passive als active Tugenden, vor allem Beharrlichkeit, Geduld und Ausdauer. Ueberall äußert sich ein bedäch¬ tiges, etwas langsames, aber gediegenes und gründliches Wesen. Kein deutscher Gau scheint so reif zur Selbstregierung — diese Sachsen, Angler, Friesen und Juden sind eben die Geschwisterkinder der Engländer. Dazu kommt, daß auch die Beschäftigung der großen Mehrzahl des Volkes der Herzogtümer eine und dieselbe ist. Schleswig-Holstein hat, wie im ersten Abschnitt bereits bemerkt wurde, verhältnißmäßig sehr wenig Fabriken. Seine Städte sind Mittel- oder Kleinstädte. Seine Bevölkerung besteht zu reichlich fünf Sechstheilen aus Bauern*) und diese Bauern betreiben die Landwirthschaft wesentlich in gleicher Weise: von der jütischen Grenze bis herab nach Lauenburg ist sie in der Viehzucht auf der Geest auf Milchwirtschaft zum Zweck der Butter- bcreitung, in der Marsch auf Mästung gerichtet, im Ackerbau den ganzen Osten hinauf Koppelwirthschaft in eingefriedigten Schlägen mit bestimmter Saatfolge und Bracbzeit. Dazu kommt ferner, daß ein Glaube im Lande herrscht. Dazu endlich, daß die von Süden eindringende Bildung ihren Weg durch die Striche nehmen mußte, die von dem sächsischen Stamme besetzt waren, und daß der gesammte Adel des Landes diesem Stamme angehört, wodurch das Sachsenthum die erste und einflußreichste Macht wurde und seine Eigenthümlichkeiten den übrigen Stämmen mehr oder minder mittheilte. Im Folgenden überblicken wir in der Kürze die Reste der Eigenschaften, welche die einzelnen Glieder des soeben betrachteten Schleswig-holsteinischen Ge-- sammt-Jndividuums unbeschadet der Einheit desselben bewahrt haben. Das Volk, welches Wagrien bewohnt, ist slavischer Abkunft, hat aber seine alte Sprache und Sitte schon seit Jahrhunderten aufgegeben und ist von seinen Nachbarn im übrigen Holstein nicht mehr zu unterscheiden. Das Land, welches diese Wagrier innehaben, ist fast ganz im Besitz des Adels und andrer großer Gutsherren, und vielfach klingt hier die Leibeigenschaft noch nach, in welche in der Zeit der Eroberung der Deutsche den Wenden warf, doch sind solche Mi߬ töne, wie sie aus Mecklenburg sich vernehmen lassen, hier nicht zu hören. Das Hauptübel, woran dieser Theil der Holsteiner leidet, liegt darin, daß die Hufner, Jnseen und Käthner Wagriens kein Grundeigenthum haben, welches sie ver¬ äußern oder vergrößern könnten, sondern auf ihren Gütern im eigentlichsten Sinne des Wortes zur Miethe wohnen. Sie sind der großen Mehrzahl nach nicht einmal Erb- sondern nur Zeitpächter der Ritterschaft, von deren Belieben ") In Schleswig kamen im Jahre 1845 auf die Städte 69.212, auf die Landdistricte 303,688, in Holstein auf jene 8<>,!>12. auf diese 389.4S2 Einwohner.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/486>, abgerufen am 24.07.2024.