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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Wo wahre Mündlichkeit überhaupt besteht, kommt sie in der Rechtsmittel¬
instanz gewöhnlich am reinsten und schönsten zur Geltung. Wer nur schrift¬
liches Verfahren kennt / dem wird dies unglaublich scheinen. Ich habe aber u. a.
verschiedenen Sitzungen des Apvellhvfs zu Köln beigewohnt und gestehe, daß
ich mich jederzeit nur ungern und mit immer neuer Bewunderung des klaren,
lebendigen Plaidvycrs von dem stattlichen Audienzsaale getrennt habe; einige
der dort gehörten Verhandlungen stehen mir noch jetzt lebhafter vor der Seele,
als irgendein Proceß, welchen ich um dieselbe Zeit selbst schriftlich bearbeitet
habe. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren: wie arm sind wir dagegen!

Manchen unserer Juristen mag um das Anbringen der erforderlichen Ge¬
lehrsamkeit bange sein. Nun, so lange Reihen von Citaten, wie sie in unseren
Proceßschriften und Erkenntnissen vorkommen, kennt man dort freilich nicht.
Dieser Verlust wäre aber wahrlich wenig zu beklagen; günstigsten Falls citirt
man bei uns doch sehr häusig Autoren, welche die betreffende Ansicht nur so
nebenher ohne weitere Begründung aussprechen. Dort liest man im Lauf der
Rede die citirten Stellen vor und so stellen sie sich ganz anders in ihrem wahren
Werthe dar. Gesetzesauslegungen habe ich ferner gehört, deren unsere besten
Juristen sich nicht zu schämen brauchten. Vor allem aber findet man dort eine
geistige Durchdringung des Stoffes, wie sie unserem Verfahren nur zu
wünschen wäre. Ich will hier eine Aeußerung eines der bedeutendsten Anwälte in
Köln anführen, welche wohl geeignet ist, das Obige zu bekräftigen: "Ich.kann,"
sagte er mir, "zu Hause mir eine Sache noch so gründlich überlegen und die Vor¬
lagen durchstudiren -- zu einer solchen Klarheit der Anschauung, wie sie mir im Laufe
des contradictorischen Verfahrens kommt, bringe ich es für mich allein niemals."

In den Ländern des französischen Verfahrens gelangt die Sache in der
Rechtsmittelinstanz, wie vor ein anderes Gericht, so auch an andere Anwälte.
Diese mit der ganzen Organisation zusammenhängende Einrichtung macht aller¬
dings eine doppelte Instruction nothwendig, dafür bietet sie aber auch eine
Gewähr mehr für die allseitige sorgfältige Prüfung der Sache. In Hannover
ist es insofern anders, als nach dem Gesagten die Obergerichte die erste und
zweite Instanz theilweise in sich vereinigen, so daß nach Befinden der nämliche
Anwalt eine Sache in beiden Instanzen führen kann. Das Princip der Münd¬
lichkeit ist aber auch hier consequent durchgeführt.

Hören wir nun unsern Entwurf (Paragraph 716 ff. 721 f.): "Der Appel¬
lant kann eine statthafte Appellation sowohl innerhalb der Einwendungsfrist,
als auch innerhalb einer nach Ablauf derselben beginnenden vierzehntägiger
Frist schriftlich ausführen ... Das Gericht hat dem Appellaten Abschrift der
Appellation und der Appellationsausführung zuzustellen. Der Appellat kann
die Appellation und die Ausführung binnen achttägiger Frist, von Zustellung
einer jeden an gerechnet, schriftlich widerlegen ... Das obere Gericht ve-


Wo wahre Mündlichkeit überhaupt besteht, kommt sie in der Rechtsmittel¬
instanz gewöhnlich am reinsten und schönsten zur Geltung. Wer nur schrift¬
liches Verfahren kennt / dem wird dies unglaublich scheinen. Ich habe aber u. a.
verschiedenen Sitzungen des Apvellhvfs zu Köln beigewohnt und gestehe, daß
ich mich jederzeit nur ungern und mit immer neuer Bewunderung des klaren,
lebendigen Plaidvycrs von dem stattlichen Audienzsaale getrennt habe; einige
der dort gehörten Verhandlungen stehen mir noch jetzt lebhafter vor der Seele,
als irgendein Proceß, welchen ich um dieselbe Zeit selbst schriftlich bearbeitet
habe. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren: wie arm sind wir dagegen!

Manchen unserer Juristen mag um das Anbringen der erforderlichen Ge¬
lehrsamkeit bange sein. Nun, so lange Reihen von Citaten, wie sie in unseren
Proceßschriften und Erkenntnissen vorkommen, kennt man dort freilich nicht.
Dieser Verlust wäre aber wahrlich wenig zu beklagen; günstigsten Falls citirt
man bei uns doch sehr häusig Autoren, welche die betreffende Ansicht nur so
nebenher ohne weitere Begründung aussprechen. Dort liest man im Lauf der
Rede die citirten Stellen vor und so stellen sie sich ganz anders in ihrem wahren
Werthe dar. Gesetzesauslegungen habe ich ferner gehört, deren unsere besten
Juristen sich nicht zu schämen brauchten. Vor allem aber findet man dort eine
geistige Durchdringung des Stoffes, wie sie unserem Verfahren nur zu
wünschen wäre. Ich will hier eine Aeußerung eines der bedeutendsten Anwälte in
Köln anführen, welche wohl geeignet ist, das Obige zu bekräftigen: „Ich.kann,"
sagte er mir, „zu Hause mir eine Sache noch so gründlich überlegen und die Vor¬
lagen durchstudiren — zu einer solchen Klarheit der Anschauung, wie sie mir im Laufe
des contradictorischen Verfahrens kommt, bringe ich es für mich allein niemals."

In den Ländern des französischen Verfahrens gelangt die Sache in der
Rechtsmittelinstanz, wie vor ein anderes Gericht, so auch an andere Anwälte.
Diese mit der ganzen Organisation zusammenhängende Einrichtung macht aller¬
dings eine doppelte Instruction nothwendig, dafür bietet sie aber auch eine
Gewähr mehr für die allseitige sorgfältige Prüfung der Sache. In Hannover
ist es insofern anders, als nach dem Gesagten die Obergerichte die erste und
zweite Instanz theilweise in sich vereinigen, so daß nach Befinden der nämliche
Anwalt eine Sache in beiden Instanzen führen kann. Das Princip der Münd¬
lichkeit ist aber auch hier consequent durchgeführt.

Hören wir nun unsern Entwurf (Paragraph 716 ff. 721 f.): „Der Appel¬
lant kann eine statthafte Appellation sowohl innerhalb der Einwendungsfrist,
als auch innerhalb einer nach Ablauf derselben beginnenden vierzehntägiger
Frist schriftlich ausführen ... Das Gericht hat dem Appellaten Abschrift der
Appellation und der Appellationsausführung zuzustellen. Der Appellat kann
die Appellation und die Ausführung binnen achttägiger Frist, von Zustellung
einer jeden an gerechnet, schriftlich widerlegen ... Das obere Gericht ve-


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[0466] Wo wahre Mündlichkeit überhaupt besteht, kommt sie in der Rechtsmittel¬ instanz gewöhnlich am reinsten und schönsten zur Geltung. Wer nur schrift¬ liches Verfahren kennt / dem wird dies unglaublich scheinen. Ich habe aber u. a. verschiedenen Sitzungen des Apvellhvfs zu Köln beigewohnt und gestehe, daß ich mich jederzeit nur ungern und mit immer neuer Bewunderung des klaren, lebendigen Plaidvycrs von dem stattlichen Audienzsaale getrennt habe; einige der dort gehörten Verhandlungen stehen mir noch jetzt lebhafter vor der Seele, als irgendein Proceß, welchen ich um dieselbe Zeit selbst schriftlich bearbeitet habe. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren: wie arm sind wir dagegen! Manchen unserer Juristen mag um das Anbringen der erforderlichen Ge¬ lehrsamkeit bange sein. Nun, so lange Reihen von Citaten, wie sie in unseren Proceßschriften und Erkenntnissen vorkommen, kennt man dort freilich nicht. Dieser Verlust wäre aber wahrlich wenig zu beklagen; günstigsten Falls citirt man bei uns doch sehr häusig Autoren, welche die betreffende Ansicht nur so nebenher ohne weitere Begründung aussprechen. Dort liest man im Lauf der Rede die citirten Stellen vor und so stellen sie sich ganz anders in ihrem wahren Werthe dar. Gesetzesauslegungen habe ich ferner gehört, deren unsere besten Juristen sich nicht zu schämen brauchten. Vor allem aber findet man dort eine geistige Durchdringung des Stoffes, wie sie unserem Verfahren nur zu wünschen wäre. Ich will hier eine Aeußerung eines der bedeutendsten Anwälte in Köln anführen, welche wohl geeignet ist, das Obige zu bekräftigen: „Ich.kann," sagte er mir, „zu Hause mir eine Sache noch so gründlich überlegen und die Vor¬ lagen durchstudiren — zu einer solchen Klarheit der Anschauung, wie sie mir im Laufe des contradictorischen Verfahrens kommt, bringe ich es für mich allein niemals." In den Ländern des französischen Verfahrens gelangt die Sache in der Rechtsmittelinstanz, wie vor ein anderes Gericht, so auch an andere Anwälte. Diese mit der ganzen Organisation zusammenhängende Einrichtung macht aller¬ dings eine doppelte Instruction nothwendig, dafür bietet sie aber auch eine Gewähr mehr für die allseitige sorgfältige Prüfung der Sache. In Hannover ist es insofern anders, als nach dem Gesagten die Obergerichte die erste und zweite Instanz theilweise in sich vereinigen, so daß nach Befinden der nämliche Anwalt eine Sache in beiden Instanzen führen kann. Das Princip der Münd¬ lichkeit ist aber auch hier consequent durchgeführt. Hören wir nun unsern Entwurf (Paragraph 716 ff. 721 f.): „Der Appel¬ lant kann eine statthafte Appellation sowohl innerhalb der Einwendungsfrist, als auch innerhalb einer nach Ablauf derselben beginnenden vierzehntägiger Frist schriftlich ausführen ... Das Gericht hat dem Appellaten Abschrift der Appellation und der Appellationsausführung zuzustellen. Der Appellat kann die Appellation und die Ausführung binnen achttägiger Frist, von Zustellung einer jeden an gerechnet, schriftlich widerlegen ... Das obere Gericht ve-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/466>, abgerufen am 24.07.2024.