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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Rechtspflege, welche der Entwurf vermeiden will, sich erst recht geltend machen;
das Princip der Arbeitstheilung wäre hier gewiß gut angewandt. Namentlich
ist Geschäftsüberhäufung bei den Appellationsgcrichten zu besorgen; zur Recht¬
fertigung ein paar Zahlen. Das Königreich Hannover mit circa 1,850,000
meist ackerbautreibenden Einwohnern besitzt ein Oberappellationsgericht, zwölf
Obergerichte und über hundert Amtsgerichte. Die letzteren erkennen in Sachen
bis ISO Thlr. und in gewisses schleunigen Sachen als erste und bis zu 10 Thlr.
zugleich als einzige Instanz; die Obergerichte zerfallen in große und kleine Se¬
nate, letztere fungiren als zweite Instanz für Amtsgerichtssachen und als erste
Instanz für Sachen bis 300 Thlr., die großen Senate, welchen die übrigen
Nechtssireitigkeiten in erster Instanz zugewiesen sind, bilden zugleich die Beru¬
fungsinstanz für jene. Die Arbeit der zweiten Instanz theilt sich also in drei¬
zehn Gerichte mit je mehrern Senaten. Ebenso erkennen am Rhein die Land¬
gerichte als zweite Instanz in Sachen, welche bei den Friedensgerichten anhängig
waren. In Sachsen mit einer vorwiegend industriellen und handeltreibenden
Bevölkerung von 2,250,000 Seelen sollen nach Paragraph 15 des Entwurfs
die vier Appellationsgerichte die zweite Instanz in allen Sachen bilden, und
noch dazu soll bei keinem Rechtsstreite die Appellation ausgeschlossen sein. Schon
jetzt reichten unsere Appellationsgerichte nicht aus; die Verschleppung der Pro¬
cesse hatte, namentlich seit der Novelle von 1861, ihren Grund hauptsächlich
noch darin, daß die Processe in der zweiten und dritten Instanz je ein halbes
Jahr und länger, nicht selten über ein Jahr liegen blieben. Nun nehme man
hinzu, daß nach dem Entwurf -- wie dies beim mündlichen Verfahren nicht
wohl anders sein kann -- im Gegensatz zum bisherigen Proceßrccht neue
Thatsachen, Beweismittel :c. (sogenannte mover) in zweiter Instanz fast ohne
Beschränkung vorgebracht werden können und daß dadurch das Verfahren selbst¬
verständlich an Umfang gewinnt; daß ferner Zwischenpunkte häusig in zweiter
Instanz zur erstmaligen Erledigung kommen; daß sogar bei Abänderung der
Beweisresolution das neue Beweisverfahren ebenfalls vor dem Appellationsgericht
geführt wird -- und man wird nicht umhin können, die obige Befürchtung zu
theilen. Es möchte mir vielleicht jemand einwenden, das Verfahren sei ja
mündlich und in Folge dessen viel weniger zeitraubend; dem muß ich jedoch
entgegnen, daß die Mündlichkeit in zweiter Instanz nach dem Entwürfe illusorisch
ist, wie sich unten zeigen wird.

Ich muß hier noch einen Punkt berühren, welcher mit der Gerichtsorgani¬
sation in nahem Zusammenhange steht. Nach den meisten neueren Gesetzgebungen
besteht im ordentlichen Verfahren (im Gegensatz zu den geringfügigen Sachen :c.)
Anwaltszwang, d. h. die Parteien sind in der Regel verpflichtet, sich eines
Anwaltes als Bevollmächtigten oder Beistandes zu bedienen. Im Princip er¬
scheint dies vielleicht Manchen bedenklich, nach der Erfahrung hat es sich aber


Rechtspflege, welche der Entwurf vermeiden will, sich erst recht geltend machen;
das Princip der Arbeitstheilung wäre hier gewiß gut angewandt. Namentlich
ist Geschäftsüberhäufung bei den Appellationsgcrichten zu besorgen; zur Recht¬
fertigung ein paar Zahlen. Das Königreich Hannover mit circa 1,850,000
meist ackerbautreibenden Einwohnern besitzt ein Oberappellationsgericht, zwölf
Obergerichte und über hundert Amtsgerichte. Die letzteren erkennen in Sachen
bis ISO Thlr. und in gewisses schleunigen Sachen als erste und bis zu 10 Thlr.
zugleich als einzige Instanz; die Obergerichte zerfallen in große und kleine Se¬
nate, letztere fungiren als zweite Instanz für Amtsgerichtssachen und als erste
Instanz für Sachen bis 300 Thlr., die großen Senate, welchen die übrigen
Nechtssireitigkeiten in erster Instanz zugewiesen sind, bilden zugleich die Beru¬
fungsinstanz für jene. Die Arbeit der zweiten Instanz theilt sich also in drei¬
zehn Gerichte mit je mehrern Senaten. Ebenso erkennen am Rhein die Land¬
gerichte als zweite Instanz in Sachen, welche bei den Friedensgerichten anhängig
waren. In Sachsen mit einer vorwiegend industriellen und handeltreibenden
Bevölkerung von 2,250,000 Seelen sollen nach Paragraph 15 des Entwurfs
die vier Appellationsgerichte die zweite Instanz in allen Sachen bilden, und
noch dazu soll bei keinem Rechtsstreite die Appellation ausgeschlossen sein. Schon
jetzt reichten unsere Appellationsgerichte nicht aus; die Verschleppung der Pro¬
cesse hatte, namentlich seit der Novelle von 1861, ihren Grund hauptsächlich
noch darin, daß die Processe in der zweiten und dritten Instanz je ein halbes
Jahr und länger, nicht selten über ein Jahr liegen blieben. Nun nehme man
hinzu, daß nach dem Entwurf — wie dies beim mündlichen Verfahren nicht
wohl anders sein kann — im Gegensatz zum bisherigen Proceßrccht neue
Thatsachen, Beweismittel :c. (sogenannte mover) in zweiter Instanz fast ohne
Beschränkung vorgebracht werden können und daß dadurch das Verfahren selbst¬
verständlich an Umfang gewinnt; daß ferner Zwischenpunkte häusig in zweiter
Instanz zur erstmaligen Erledigung kommen; daß sogar bei Abänderung der
Beweisresolution das neue Beweisverfahren ebenfalls vor dem Appellationsgericht
geführt wird — und man wird nicht umhin können, die obige Befürchtung zu
theilen. Es möchte mir vielleicht jemand einwenden, das Verfahren sei ja
mündlich und in Folge dessen viel weniger zeitraubend; dem muß ich jedoch
entgegnen, daß die Mündlichkeit in zweiter Instanz nach dem Entwürfe illusorisch
ist, wie sich unten zeigen wird.

Ich muß hier noch einen Punkt berühren, welcher mit der Gerichtsorgani¬
sation in nahem Zusammenhange steht. Nach den meisten neueren Gesetzgebungen
besteht im ordentlichen Verfahren (im Gegensatz zu den geringfügigen Sachen :c.)
Anwaltszwang, d. h. die Parteien sind in der Regel verpflichtet, sich eines
Anwaltes als Bevollmächtigten oder Beistandes zu bedienen. Im Princip er¬
scheint dies vielleicht Manchen bedenklich, nach der Erfahrung hat es sich aber


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[0459] Rechtspflege, welche der Entwurf vermeiden will, sich erst recht geltend machen; das Princip der Arbeitstheilung wäre hier gewiß gut angewandt. Namentlich ist Geschäftsüberhäufung bei den Appellationsgcrichten zu besorgen; zur Recht¬ fertigung ein paar Zahlen. Das Königreich Hannover mit circa 1,850,000 meist ackerbautreibenden Einwohnern besitzt ein Oberappellationsgericht, zwölf Obergerichte und über hundert Amtsgerichte. Die letzteren erkennen in Sachen bis ISO Thlr. und in gewisses schleunigen Sachen als erste und bis zu 10 Thlr. zugleich als einzige Instanz; die Obergerichte zerfallen in große und kleine Se¬ nate, letztere fungiren als zweite Instanz für Amtsgerichtssachen und als erste Instanz für Sachen bis 300 Thlr., die großen Senate, welchen die übrigen Nechtssireitigkeiten in erster Instanz zugewiesen sind, bilden zugleich die Beru¬ fungsinstanz für jene. Die Arbeit der zweiten Instanz theilt sich also in drei¬ zehn Gerichte mit je mehrern Senaten. Ebenso erkennen am Rhein die Land¬ gerichte als zweite Instanz in Sachen, welche bei den Friedensgerichten anhängig waren. In Sachsen mit einer vorwiegend industriellen und handeltreibenden Bevölkerung von 2,250,000 Seelen sollen nach Paragraph 15 des Entwurfs die vier Appellationsgerichte die zweite Instanz in allen Sachen bilden, und noch dazu soll bei keinem Rechtsstreite die Appellation ausgeschlossen sein. Schon jetzt reichten unsere Appellationsgerichte nicht aus; die Verschleppung der Pro¬ cesse hatte, namentlich seit der Novelle von 1861, ihren Grund hauptsächlich noch darin, daß die Processe in der zweiten und dritten Instanz je ein halbes Jahr und länger, nicht selten über ein Jahr liegen blieben. Nun nehme man hinzu, daß nach dem Entwurf — wie dies beim mündlichen Verfahren nicht wohl anders sein kann — im Gegensatz zum bisherigen Proceßrccht neue Thatsachen, Beweismittel :c. (sogenannte mover) in zweiter Instanz fast ohne Beschränkung vorgebracht werden können und daß dadurch das Verfahren selbst¬ verständlich an Umfang gewinnt; daß ferner Zwischenpunkte häusig in zweiter Instanz zur erstmaligen Erledigung kommen; daß sogar bei Abänderung der Beweisresolution das neue Beweisverfahren ebenfalls vor dem Appellationsgericht geführt wird — und man wird nicht umhin können, die obige Befürchtung zu theilen. Es möchte mir vielleicht jemand einwenden, das Verfahren sei ja mündlich und in Folge dessen viel weniger zeitraubend; dem muß ich jedoch entgegnen, daß die Mündlichkeit in zweiter Instanz nach dem Entwürfe illusorisch ist, wie sich unten zeigen wird. Ich muß hier noch einen Punkt berühren, welcher mit der Gerichtsorgani¬ sation in nahem Zusammenhange steht. Nach den meisten neueren Gesetzgebungen besteht im ordentlichen Verfahren (im Gegensatz zu den geringfügigen Sachen :c.) Anwaltszwang, d. h. die Parteien sind in der Regel verpflichtet, sich eines Anwaltes als Bevollmächtigten oder Beistandes zu bedienen. Im Princip er¬ scheint dies vielleicht Manchen bedenklich, nach der Erfahrung hat es sich aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/459>, abgerufen am 24.07.2024.