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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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sähe als maßgebend betrachtet wird, die mündliche Schlußverhandlung sehr an
Interesse einbüßt und leicht zu einer leeren Form herabsinkt.

Bevor ich nun auf das Verfahren eingehe, wie es sich nach dem Entwurf
gestalten würde, muß ich noch einen Blick auf die Organisation der Ge¬
richte werfen. Es versteht sich von selbst, daß diese dem mündlichen Verfahren
angepaßt sein muß. Regel ist collegialische Besetzung der Gerichte. Den Ge¬
danken, daß das eigentliche Amt des Nichtercollegs im Rechtsprecher bestehe und
daß der Richter von anderen Geschäften frei gehalten werden müsse, hat das
französische Proceßrecht am strengsten durchgeführt. Die sogenannte freiwillige
Gerichtsbarkeit ist dort in der Hauptsache den Notaren -- der Verkehr des Ge¬
richts mit anderen Behörden, die Aussichtsführung, die Verwaltung der ökono¬
mischen Angelegenheiten (Gebäudereparaturen und dergl.), die Ertheilung des
Armenrechts und verschiedene andere Functionen der Staatsprocuratur (Staats¬
oder Kronanwaltschast) -- die Vermittelung des Verkehrs zwischen den Parteien
und die Execution den Iruissiers (Beamten, welche zwar unter Oberaufsicht
des Gerichts, aber im Auftrage der Parteien handeln) ausschließlich überlassen.
Auch das Sekretariat nimmt eine mehr oder weniger selbständige Stellung ein.
In Hannover hat man einen Theil der genannten Functionen den Gerichten
gelassen, die Institute der Staatsanwaltschaft, der Quissisrs (hier "Gerichts¬
vögte", am Rhein "Gerichtsvollzieher" genannt) und des Sekretariats (Gerichts¬
schreiberei) aber als unentbehrlich mit herübergenommen.

Unser Entwurf setzt das Bestehenbleiben der jetzigen Gerichtsorganisation
in Sachsen voraus, welche einerseits eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft
für den Civilproceß und das Institut der Gerichtsvögte gar nicht, ein Secre-
tariat aber nur bei den höheren Gerichten kennt, andererseits auch die freiwillige
Gerichtsbarkeit in die Hände der gewöhnlichen Civilgerichte legt. Die Bezirks¬
gerichte, welche jetzt hauptsächlich Criminalbehörden und in Civilsachen für ihren
ganzen Bezirk nur Spruchbehörden sind, die Civilgerichtsbarkeit dagegen nur für
die Stadt ausüben, wo sie ihren Sitz haben, (z. B. das Bezirksgericht Leipzig hat
die Civilgerichtsbarkeit nur über die Stadt, als Criminal- und als Spruchbehörde
umfaßt es dagegen noch die Sprengel der Gerichtsämter Leipzig I. und II. d. h.
umliegende Dörfer und Flecken) sollen in Zukunft für größere Rechtsstreitigkeiten
(über 100 Thlr. :c.) in ihrem ganzen Bezirke competent sein, während
den Gerichtsämtern nur geringere Sachen, Besitzftreitigkeiten ze. bleiben. Ich
fürchte jedoch sehr, daß man mit dieser Organisation nicht ausreichen werde.
Wenn die Richter den regelmäßigen öffentlichen Sitzungen und den Berathungen
beiwohnen und gleichzeitig alle die Geschäfte erledigen sollen, welche anderwärts
den genannten anderen Organen zugewiesen sind, so muß fast nothwendig ihre
Thätigkeit in der einen oder andern Beziehung darunter leiden. Will man
aber verhältnißmäßig mehr Richter anstellen, dann wird die Kostspieligkeit der


sähe als maßgebend betrachtet wird, die mündliche Schlußverhandlung sehr an
Interesse einbüßt und leicht zu einer leeren Form herabsinkt.

Bevor ich nun auf das Verfahren eingehe, wie es sich nach dem Entwurf
gestalten würde, muß ich noch einen Blick auf die Organisation der Ge¬
richte werfen. Es versteht sich von selbst, daß diese dem mündlichen Verfahren
angepaßt sein muß. Regel ist collegialische Besetzung der Gerichte. Den Ge¬
danken, daß das eigentliche Amt des Nichtercollegs im Rechtsprecher bestehe und
daß der Richter von anderen Geschäften frei gehalten werden müsse, hat das
französische Proceßrecht am strengsten durchgeführt. Die sogenannte freiwillige
Gerichtsbarkeit ist dort in der Hauptsache den Notaren — der Verkehr des Ge¬
richts mit anderen Behörden, die Aussichtsführung, die Verwaltung der ökono¬
mischen Angelegenheiten (Gebäudereparaturen und dergl.), die Ertheilung des
Armenrechts und verschiedene andere Functionen der Staatsprocuratur (Staats¬
oder Kronanwaltschast) — die Vermittelung des Verkehrs zwischen den Parteien
und die Execution den Iruissiers (Beamten, welche zwar unter Oberaufsicht
des Gerichts, aber im Auftrage der Parteien handeln) ausschließlich überlassen.
Auch das Sekretariat nimmt eine mehr oder weniger selbständige Stellung ein.
In Hannover hat man einen Theil der genannten Functionen den Gerichten
gelassen, die Institute der Staatsanwaltschaft, der Quissisrs (hier „Gerichts¬
vögte", am Rhein „Gerichtsvollzieher" genannt) und des Sekretariats (Gerichts¬
schreiberei) aber als unentbehrlich mit herübergenommen.

Unser Entwurf setzt das Bestehenbleiben der jetzigen Gerichtsorganisation
in Sachsen voraus, welche einerseits eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft
für den Civilproceß und das Institut der Gerichtsvögte gar nicht, ein Secre-
tariat aber nur bei den höheren Gerichten kennt, andererseits auch die freiwillige
Gerichtsbarkeit in die Hände der gewöhnlichen Civilgerichte legt. Die Bezirks¬
gerichte, welche jetzt hauptsächlich Criminalbehörden und in Civilsachen für ihren
ganzen Bezirk nur Spruchbehörden sind, die Civilgerichtsbarkeit dagegen nur für
die Stadt ausüben, wo sie ihren Sitz haben, (z. B. das Bezirksgericht Leipzig hat
die Civilgerichtsbarkeit nur über die Stadt, als Criminal- und als Spruchbehörde
umfaßt es dagegen noch die Sprengel der Gerichtsämter Leipzig I. und II. d. h.
umliegende Dörfer und Flecken) sollen in Zukunft für größere Rechtsstreitigkeiten
(über 100 Thlr. :c.) in ihrem ganzen Bezirke competent sein, während
den Gerichtsämtern nur geringere Sachen, Besitzftreitigkeiten ze. bleiben. Ich
fürchte jedoch sehr, daß man mit dieser Organisation nicht ausreichen werde.
Wenn die Richter den regelmäßigen öffentlichen Sitzungen und den Berathungen
beiwohnen und gleichzeitig alle die Geschäfte erledigen sollen, welche anderwärts
den genannten anderen Organen zugewiesen sind, so muß fast nothwendig ihre
Thätigkeit in der einen oder andern Beziehung darunter leiden. Will man
aber verhältnißmäßig mehr Richter anstellen, dann wird die Kostspieligkeit der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/458>, abgerufen am 24.07.2024.