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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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dem Autograph und der revidirten Abschrift gegenüber die entscheidende Instanz
bilden. Dies ergiebt sich schon daraus, daß die Revision der Correcturbogen
ja auch eine Revision der Composition war, in der unter Umständen erst die
schließliche Redaction vorgenommen werden konnte. Einen merkwürdigen und
in jeder Hinsicht interessanten Fall bietet das Violinconcert (0p. 61).
Beethoven hatte dasselbe für den genialen Violinspieler Element geschrieben
wie auch der scherzhafte Titel des Autographs

Loneerto per elemensg, xonr Llsmerit primo Violmo 6 Oirsttors g.1
teatro a ViöiwÄ 6a1 v. Ltlroven 1806.

beweist und dieser hatte es in seinem Benefizconcert am 23. December 1806
zuerst gespielt. Die eigenhändige Partitur zeigt nun eine dreifache Redaction
der Solostimme. An der gehörigen Stelle in der Partitur ist sie so nieder¬
geschrieben, wie Beethoven sie ursprünglich concipirt hatte. Er war selbst mit
der Technik der Saiteninstrumente soweit vertraut, um Ausführbarkeit und Effect
im Einzelnen beurtheilen zu können; allein ein durchgebildeter Virtuos hat üver
das Verhältniß der Schwierigkeiten zur Wirkung, über die Anwendung besonderer
Mittel für einen besonderen Zweck ein durch vielseitige praktische Erfahrung
gewonnenes, maßgebendes Urtheil und, wo es die eigenen Leistungen gilt, Be¬
denken und Wünsche, die aus seiner eigenthümlichen künstlerischen Stellung her¬
vorgehen. Offenbar hat nun Beethoven das fertige Concert vor der Aufführung
einer genauen Durchsicht und Besprechung mit Element unterzogen, dieser hat
ihm seine Ansichten über dasjenige, was ihm überhaupt oder doch für sein
Spiel undankbar erschien und Vorschläge zu Abänderungen mitgetheilt, und
danach ist in einer abgesonderten Zeile unter der Partitur die Solostimme in
neuer Fassung geschrieben, welche durchgehends die Rücksicht auf den praktischen
Geiger offenbart, der die größten Effecte mit möglichster Sicherheit, also mit
der bequemsten, der Natur des Instrumentes und der Weise seines Spiels am
meisten angepaßten Technik zu erreichen wünschte. Daß Beethoven Element so¬
weit nachgab, ist ein neuer Beweis dafür, daß er viel aus ihn hielt, und so wie
es nun ungeschrieben wurde, mag das Concert wohl vorgetragen worden sein.
Als es aber zur Herausgabe kam, hat Beethoven doch Bedenken gefühlt, die
clementschen Varianten alle gut zu heißen und deshalb in einer neuen Zeile
oberhalb der Partitur eine dritte Redaction niedergeschrieben, welche zum Theil
die ursprünglichen Ideen wieder ausnimmt ,zum Theil die zweite Bearbeitung
benutzt, dann aber auch ganz neue Aenderungen einführt. Man könnte nun
allerdings zweifelhaft sein, welche Redaction die eigentlich berechtigte sei, allein
da die unter Beethovens Aussicht gedruckte, von ihm selbst corrigirie Ausgabe
vorliegt, welche sich der zuletzt erwähnten Gestaltung anschließt, so bleibt es
nicht zweifelhaft, daß dies die von Beethoven endgiltig festgestellte Form sei und
die andern Bearbeitungen nur ein historisches Interesse beanspruchen können.


Grenzboten I. 1864. 45

dem Autograph und der revidirten Abschrift gegenüber die entscheidende Instanz
bilden. Dies ergiebt sich schon daraus, daß die Revision der Correcturbogen
ja auch eine Revision der Composition war, in der unter Umständen erst die
schließliche Redaction vorgenommen werden konnte. Einen merkwürdigen und
in jeder Hinsicht interessanten Fall bietet das Violinconcert (0p. 61).
Beethoven hatte dasselbe für den genialen Violinspieler Element geschrieben
wie auch der scherzhafte Titel des Autographs

Loneerto per elemensg, xonr Llsmerit primo Violmo 6 Oirsttors g.1
teatro a ViöiwÄ 6a1 v. Ltlroven 1806.

beweist und dieser hatte es in seinem Benefizconcert am 23. December 1806
zuerst gespielt. Die eigenhändige Partitur zeigt nun eine dreifache Redaction
der Solostimme. An der gehörigen Stelle in der Partitur ist sie so nieder¬
geschrieben, wie Beethoven sie ursprünglich concipirt hatte. Er war selbst mit
der Technik der Saiteninstrumente soweit vertraut, um Ausführbarkeit und Effect
im Einzelnen beurtheilen zu können; allein ein durchgebildeter Virtuos hat üver
das Verhältniß der Schwierigkeiten zur Wirkung, über die Anwendung besonderer
Mittel für einen besonderen Zweck ein durch vielseitige praktische Erfahrung
gewonnenes, maßgebendes Urtheil und, wo es die eigenen Leistungen gilt, Be¬
denken und Wünsche, die aus seiner eigenthümlichen künstlerischen Stellung her¬
vorgehen. Offenbar hat nun Beethoven das fertige Concert vor der Aufführung
einer genauen Durchsicht und Besprechung mit Element unterzogen, dieser hat
ihm seine Ansichten über dasjenige, was ihm überhaupt oder doch für sein
Spiel undankbar erschien und Vorschläge zu Abänderungen mitgetheilt, und
danach ist in einer abgesonderten Zeile unter der Partitur die Solostimme in
neuer Fassung geschrieben, welche durchgehends die Rücksicht auf den praktischen
Geiger offenbart, der die größten Effecte mit möglichster Sicherheit, also mit
der bequemsten, der Natur des Instrumentes und der Weise seines Spiels am
meisten angepaßten Technik zu erreichen wünschte. Daß Beethoven Element so¬
weit nachgab, ist ein neuer Beweis dafür, daß er viel aus ihn hielt, und so wie
es nun ungeschrieben wurde, mag das Concert wohl vorgetragen worden sein.
Als es aber zur Herausgabe kam, hat Beethoven doch Bedenken gefühlt, die
clementschen Varianten alle gut zu heißen und deshalb in einer neuen Zeile
oberhalb der Partitur eine dritte Redaction niedergeschrieben, welche zum Theil
die ursprünglichen Ideen wieder ausnimmt ,zum Theil die zweite Bearbeitung
benutzt, dann aber auch ganz neue Aenderungen einführt. Man könnte nun
allerdings zweifelhaft sein, welche Redaction die eigentlich berechtigte sei, allein
da die unter Beethovens Aussicht gedruckte, von ihm selbst corrigirie Ausgabe
vorliegt, welche sich der zuletzt erwähnten Gestaltung anschließt, so bleibt es
nicht zweifelhaft, daß dies die von Beethoven endgiltig festgestellte Form sei und
die andern Bearbeitungen nur ein historisches Interesse beanspruchen können.


Grenzboten I. 1864. 45
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[0359] dem Autograph und der revidirten Abschrift gegenüber die entscheidende Instanz bilden. Dies ergiebt sich schon daraus, daß die Revision der Correcturbogen ja auch eine Revision der Composition war, in der unter Umständen erst die schließliche Redaction vorgenommen werden konnte. Einen merkwürdigen und in jeder Hinsicht interessanten Fall bietet das Violinconcert (0p. 61). Beethoven hatte dasselbe für den genialen Violinspieler Element geschrieben wie auch der scherzhafte Titel des Autographs Loneerto per elemensg, xonr Llsmerit primo Violmo 6 Oirsttors g.1 teatro a ViöiwÄ 6a1 v. Ltlroven 1806. beweist und dieser hatte es in seinem Benefizconcert am 23. December 1806 zuerst gespielt. Die eigenhändige Partitur zeigt nun eine dreifache Redaction der Solostimme. An der gehörigen Stelle in der Partitur ist sie so nieder¬ geschrieben, wie Beethoven sie ursprünglich concipirt hatte. Er war selbst mit der Technik der Saiteninstrumente soweit vertraut, um Ausführbarkeit und Effect im Einzelnen beurtheilen zu können; allein ein durchgebildeter Virtuos hat üver das Verhältniß der Schwierigkeiten zur Wirkung, über die Anwendung besonderer Mittel für einen besonderen Zweck ein durch vielseitige praktische Erfahrung gewonnenes, maßgebendes Urtheil und, wo es die eigenen Leistungen gilt, Be¬ denken und Wünsche, die aus seiner eigenthümlichen künstlerischen Stellung her¬ vorgehen. Offenbar hat nun Beethoven das fertige Concert vor der Aufführung einer genauen Durchsicht und Besprechung mit Element unterzogen, dieser hat ihm seine Ansichten über dasjenige, was ihm überhaupt oder doch für sein Spiel undankbar erschien und Vorschläge zu Abänderungen mitgetheilt, und danach ist in einer abgesonderten Zeile unter der Partitur die Solostimme in neuer Fassung geschrieben, welche durchgehends die Rücksicht auf den praktischen Geiger offenbart, der die größten Effecte mit möglichster Sicherheit, also mit der bequemsten, der Natur des Instrumentes und der Weise seines Spiels am meisten angepaßten Technik zu erreichen wünschte. Daß Beethoven Element so¬ weit nachgab, ist ein neuer Beweis dafür, daß er viel aus ihn hielt, und so wie es nun ungeschrieben wurde, mag das Concert wohl vorgetragen worden sein. Als es aber zur Herausgabe kam, hat Beethoven doch Bedenken gefühlt, die clementschen Varianten alle gut zu heißen und deshalb in einer neuen Zeile oberhalb der Partitur eine dritte Redaction niedergeschrieben, welche zum Theil die ursprünglichen Ideen wieder ausnimmt ,zum Theil die zweite Bearbeitung benutzt, dann aber auch ganz neue Aenderungen einführt. Man könnte nun allerdings zweifelhaft sein, welche Redaction die eigentlich berechtigte sei, allein da die unter Beethovens Aussicht gedruckte, von ihm selbst corrigirie Ausgabe vorliegt, welche sich der zuletzt erwähnten Gestaltung anschließt, so bleibt es nicht zweifelhaft, daß dies die von Beethoven endgiltig festgestellte Form sei und die andern Bearbeitungen nur ein historisches Interesse beanspruchen können. Grenzboten I. 1864. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/359>, abgerufen am 24.07.2024.